Hexenjagd
Stehen brachte, konnte sie sich nicht entsinnen, wie lange sie schon unterwegs waren. Nach einem kurzen Rundblick in die nähere Umgebung erkannte sie jedoch, dass ihr Ziel noch keineswegs erreicht war. „Warum hältst du?“, fragte sie überrascht.
„Weil da vorne eine Jagdgesellschaft ist“, erwiderte der Kutscher leise. „Ich will sie erst vorbeilassen.“
Den Blick in die gewiesene Richtung lenkend, bemerkte sie tatsächlich eine kleine Reitergruppe, die gerade die befestigte Straße kreuzte. Im Grunde war dies nichts Ungewöhnliches, denn die adligen Herrschaften hetzten des Öfteren hinter allerlei Getier her, um es am Ende aus purer Freude am Töten mit einem Speer oder Pfeil aufzuspießen. Doch an diesem Tag schien es anders zu sein, denn die Reiter lenkten ihre Pferde nur zögernd vorwärts, derweil ihr Blick zum Waldrand gerichtet war.
Neugierig geworden, richtete sich das Mädchen ein klein wenig auf, um in die gleiche Richtung schauen zu können, bemerkte dabei die huschende Gestalt im Dickicht des Waldsaumes und fuhr erschrocken zusammen, als es gleichzeitig einen der Reiter zu seiner Armbrust greifen und auf den flüchtenden Menschen zielen sah.
Der Pfeil, von der Mechanik der Waffe mit aller Kraft weggeschleudert, flog sirrend durch die Luft und traf nur einen Atemzug später sein Ziel, was augenblicklich einen schmerzvollen Aufschrei nach sich zog.
Dass sie selbst ebenfalls aufgeschrien hatte, war der jungen Frau überhaupt nicht bewusst, während sie aus der Kutsche sprang, um sogleich zum Waldrand zu laufen. Ungeachtet der warnenden Rufe ihres Kutschers beeilte sie sich, zu dem Verletzten zu kommen, und warf sich auf die Knie, sobald sie bei ihm anlangte, um nach der Beinwunde zu sehen, die den Angeschossenen von den Füßen gerissen hatte.
„He! Was macht Ihr da?“ Die herrisch klingende Männerstimme drohte überzukippen, so aufgebracht war der Sprecher. „Das ist ein Wilderer und Dieb! Lasst die Finger von ihm! Er wird sowieso hingerichtet werden, also braucht Ihr Euch gar nicht erst um seine Wunden zu kümmern.“
Die Helferin schenkte dem Jagdaufseher, der mittlerweile bis auf drei Schritte herangekommen war, nur einen kurzen Seitenblick, bevor sie sich wieder dem Verletzten zuwandte. Sie kannte den Jungen, denn sie war ihm schon einige Male im nahe gelegenen Dorf begegnet. Dass er aus bettelarmen Verhältnissen stammte, war nicht zu verleugnen – seine Kleidung bestand nur noch aus alten Lumpen. Dass er aber zum Dieb geworden sein sollte, wo er einer der ehrlichsten Menschen überhaupt war, konnte sie nicht begreifen. Erst als sie das Kaninchen entdeckte, dessen lange Ohren er in seiner verkrampften Hand hielt, musste sie sich eingestehen, dass sie wohl einem Irrtum aufgesessen war.
„Meine Mutter ist krank“, presste der Junge unter Schmerzen hervor. „Ich wollte doch nur eine stärkende Brühe für sie machen, damit sie wieder zu Kräften kommt. Sie hat seit Tagen nichts Vernünftiges zu essen bekommen.“
„Ts, ts. Bauern, die hungern, gibt es gar nicht. Wäre ja was ganz Neues. Miese Entschuldigung für ein Verbrechen.“ Jetzt war es eindeutig eine andere Stimme, die da sprach, denn sie klang herablassend, um nicht zu sagen sehr gelangweilt.
Eine Zurechtweisung bereits auf den Lippen, schluckte das Mädchen die Worte augenblicklich hinunter, als ihm bewusst wurde, dass es keineswegs der Jagdaufseher gewesen war, der die Worte von sich gegeben hatte. Neben dem Besagten stand nämlich mittlerweile ein edles Pferd, auf dessen Rücken ein Mann in sehr aufrechter Haltung saß. Der groß gewachsene Reiter schien in der Tat einem Gemälde entsprungen zu sein: Sein aristokratisches Gesicht wurde von dunkelblauen Augen beherrscht. Eine schmale gerade Nase und ein Mund, dessen Lippen nun zu einem dünnen Strich zusammengepresst waren, unterstrichen das hochmütige Mienenspiel seines Antlitzes. Braunes, sorgfältig frisiertes Haar ergoss sich über Schultern und Rücken, wobei seine Kleidung eindeutig verriet, dass er aus herrschaftlichem Hause stammte. Die knielange Hose und der weite Umhang waren aus dem besten Wollstoff gefertigt, den es überhaupt zu kaufen gab. Auch das blütenweiße Hemd aus feinster Seide konnte sich nur ein überaus reicher Mann leisten. Dass seine Stiefel und Handschuhe sowie das Zaumzeug und der Sattel seines Pferdes aus selten weichem Leder bestanden, verwunderte nun nicht mehr.
„Würdet Ihr jetzt freundlicherweise zur Seite treten.“ Endlich
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