Hexenjagd
Unterlippe herum. Dann schien sie zu einem Entschluss gekommen zu sein, denn sie sagte: „Kann sein, dass sie dich mal mit ‚Victor’ anredet. Wundre dich nicht darüber, das hat schon seine Richtigkeit. Mittlerweile ordnet sie zwar ein paar bekannten Leuten ihre richtigen Namen zu – ich bin übrigens auch nicht mehr Äbtissin, sondern Lady Rebekka –, aber sie hat immer noch Schwierigkeiten, ihre Welt und die Realität auseinander zu halten.“
Vincent nickte bloß, stand schnell auf und verließ das Arztzimmer. Nach außen wirkte er ruhig und beherrscht wie immer. Doch in seinem Innern begann nun ein ungeheurer Schmerz zu bohren. Grundgütiger, dachte er schockiert. Victor? War er – Vincent – etwa das reale Gegenstück zu diesem Kerl, vor dem sich Celiska so sehr fürchtete? Aber wieso, Himmelherrgott noch mal? Was hatte er ausgefressen, dass sie ihn wie einen Verbrecher ansah? Und was konnte er dagegen tun, außer ihr konsequent aus dem Wege zu gehen? Nichts, musste er erkennen.
*
Celia war verwirrt. Irgendetwas hatte sich verändert, das wusste sie genau, ohne es eindeutig definieren zu können. Victor kam nach wie vor jeden Tag. Aber er beachtete sie nicht mehr. Lief er ihr mal unverhofft über den Weg, grüßte er zwar freundlich, verschwand dann aber schleunigst in einem der Zimmer.
„Celiska?“
Celia schoss erschreckt hoch, weil sie weder das Öffnen der Tür noch das Eintreten einer Person mitbekommen hatte. Als sie sich aufrichtete, sah sie Lady Rebekka näher kommen und an ihrer Seite eine ältere Frau, deren Gesicht ihr so vertraut war, als kenne sie es schon unendlich lange.
„Ja?“, fragte sie unsicher. Ihren automatischen Protest hatte sie völlig vergessen, weil sie bereits ahnte, wer da zu Besuch kam.
Keine Korrektur, stellte Rebekka erfreut fest, sagte jedoch nichts, da sie merkte, wie es in ihrer Patientin arbeitete. Dem Blick der jungen Frau standhaltend, verharrte sie bloß auf der Stelle und wartete auf die nächste Reaktion.
„Was willst du?“, wandte sich Celia schließlich an die ältere Frau. „Ich hab dir doch ausrichten lassen, dass ich nicht nach Hause kommen will. Weshalb bist du dann hier?“ Sie erkannte durchaus den verletzten Blick ihrer Besucherin, verbot sich jedoch jegliches Mitleid. Die Mutter hatte auch kein Mitleid gekannt, erinnerte sie sich. Weder als Celia ein kleines Kind gewesen war noch später. Sie hatte die Tochter immer nur gegängelt und von allem ferngehalten, was interessant oder aufregend gewesen wäre. Auch wenn sie vielleicht aus Sorge so gehandelt hatte, hatte Celia sich doch wie eine Gefangene gefühlt, zumal sie für jeden Ungehorsam hart bestraft wurde. Selbst als sie älter war, war es nicht besser geworden. Im Gegenteil, die Mutter hatte sie wie eine Sklavin halten wollen. … Nein! Was war denn nur mit ihrem Kopf los? Die Mutter hatte sie nicht zu Hause haben wollen, musste es richtig heißen! „Geh weg“, murmelte sie hilflos. „Ich will dich nicht sehen.“ Weil ihr jäh Tränen in die Augen schossen, hob sie die Hände, um jene voller Ungeduld wieder wegzuwischen, damit sie freie Sicht bekam. „Geh endlich!“ Da man weder auf ihren Wunsch einging noch die Tränen wegblieben, die sie doch jetzt ganz und gar nicht gebrauchen konnte, fühlte sie Ärger in sich aufsteigen. „Du hast mich im Stich gelassen, als ich dich am nötigsten gebraucht hab“, warf sie ihrer Besucherin vor. „Dabei wollte ich doch nur mit dir reden, weil ich mir selbst nicht sicher war und deinen Rat haben wollte. Aber du hast ja noch nicht einmal meine Anrufe entgegengenommen! Selbst meine Verlobung wolltest du nicht mit uns feiern. Du hast mich runtergeputzt und dann einfach allein gelassen!“ Plötzlich konnte sie den Anblick der Mutter nicht länger ertragen und stürzte auf die beiden Frauen zu, um sie gewaltsam aus dem Raum zu drängen. Gleich darauf schloss sie die Tür mit Nachdruck und blieb dann lange Zeit davor stehen, die Klinke fest in ihren verkrampften Fingern, damit ja niemand gegen ihren Willen eintreten konnte. Eigentlich hätte sie nun froh sein müssen, dachte sie erstaunt. Aber warum ließen sich dann die Tränen nicht aufhalten? Und warum tat das Herz so weh bei dem Gedanken, die Mutter möglicherweise nie mehr sehen zu dürfen?
Einer plötzlich aufsteigenden Sehnsucht nachgebend, öffnete Celia die Tür mit der Absicht, die Mutter zurückzuholen und sich für ihr unverzeihliches Verhalten zu entschuldigen, fand sich jedoch
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