Hexenkessel
begann sie, langsam die Treppe Stufe für Stufe emporzusteigen.
Jetzt wünschte sie sich, sie hätte Schuhe mit weichen Sohlen angezogen. Die Absätze ihrer Pumps machten auf den metallenen Stufen zuviel Lärm. Wieder blieb sie stehen, streifte die Schuhe ab und hielt sie in der linken Hand, während sie leise die noch verbleibenden Stufen emporschlich. Die Polizei hatte ihre Ermittlungen offenbar beendet - jedenfalls war das Plastikband am Fuß der Treppe inzwischen entfernt worden. Nichts zeugte mehr von dem makabren Ereignis, das hier stattgefunden hatte.
»Ist jemand hier?« rief sie von der Schwelle der geöffneten Tür aus in den Raum.
Sie wäre nur sehr ungern auf Anderson gestoßen, den Detective, der die Ermittlungen geleitet hatte, als sie mit Tweed zum ersten Mal hierhergekommen war. Wenn sie ihn überraschte, würde er womöglich ärgerlich reagieren. Aber sie erhielt keine Antwort; überall nur unheilverkündende Stille. Vorsichtig stieß sie die Tür mit dem Fuß auf.
Im dämmrigen Licht - die Vorhänge waren halb zugezogen - sah der Raum genauso aus wie bei ihrem ersten Besuch. Der leere Schreibtisch und der zurückgezogene Stuhl lösten ein unangenehmes Kribbeln in ihrer Magengrube aus. Hier hatte Linda Standish Gott weiß wie lange gelebt und gearbeitet. Sie trat ein, schlüpfte in ihre Schuhe, nahm den Browning in die rechte Hand und blickte sich um. Die Tür zum Badezimmer war geschlossen.
Vorsichtig ging sie darauf zu, drehte den Knauf und versuchte, sie zu öffnen, doch sie klemmte. Ihr fiel ein, daß Anderson sie mit der Schulter aufgestoßen hatte, als sie hiergewesen waren. Aufmerksam schaute sie sich in dem Raum um und überlegte, wo Linda wohl ein wichtiges Dokument versteckt haben könnte, aber ihr kam keine Idee.
Ein wenig beklommen nahm sie in dem Stuhl hinter dem Schreibtisch Platz, weil sie hoffte, aus dieser Blickrichtung vielleicht etwas zu entdecken, was sie bislang übersehen hatte. Ihre Stimmung hob sich nicht gerade, als sie feststellte, daß die Beamten die Formulare für die Einkommenssteuererklärung, an der Linda gearbeitet hatte, auf dem Schreibtisch verstreut liegengelassen hatten. Sie waren mit dem feinen Puder übersät, den die Polizei benutzt, um Fingerabdrücke sicherzustellen. Nie können sie ordentlich aufräumen, dachte Paula, aber sie mußte zugeben, daß sie auch mit englischen Beamten ähnliche Erfahrungen gemacht hatte.
Noch immer waren die leichten Blutspritzer auf dem Schreibtisch zu sehen. Paula öffnete die rechte obere Schublade. Leer. Die Beamten hatten die Waffe mitgenommen, die zu benutzen Linda nicht mehr möglich gewesen war.
Sie müssen etwas übersehen haben, sagte sich Paula. Warum haben sie keinen Beamten hergeschickt, um die Wohnung noch einmal gründlich zu durchsuchen? Aber vielleicht hatten sie das ja getan, woher sollte sie das wissen?
Die Stille im Raum zerrte an ihren Nerven. Sie kam sich völlig von der Außenwelt abgeschnitten vor, war jedoch entschlossen, die Sache durchzustehen. Sie würde erst gehen, wenn sie ganz sicher war, daß sie nichts mehr herausfinden konnte. Dann entdeckte sie in einer dunklen Ecke ein zusammengeklapptes, an die Wand gelehntes Feldbett. Hatte sich etwa die amerikanische Version eines Hausbesetzers hier eingenistet?
Eine nach der anderen zog sie die restlichen Schreibtischschubladen auf. Sie enthielten Notizbücher voller Aufzeichnungen, die anscheinend die Fälle betrafen, an denen Linda in letzter Zeit gearbeitet hatte. Paula überflog jedes einzelne hastig. Sie hoffte, einen Hinweis darauf zu finden, warum Linda Standish ermordet worden war.
Hinter ihr begann sich der Knauf der Badezimmertür zu drehen. Er wurde von der Innenseite des Raumes mit äußerster Vorsicht bewegt, die frischgeölte Tür einen Spaltbreit geöffnet und der Knopf dann ebenso langsam wieder losgelassen. Eine Gestalt mit Kapuze über dem Kopf und weichen Schuhen an den Füßen kam zum Vorschein, als Paula sich gerade über ein Notizbuch beugte, es unwillig beiseite schob und das nächste aufschlug. Die unheimliche Gestalt bewegte sich völlig lautlos. In den behandschuhten Händen hielt sie einen an beiden Enden mit einem Holzgriff versehenen Draht. Eine Garotte.
Paula war noch immer in das Notizbuch vertieft, als sie - zu spät - die Gefahr bemerkte. Der Draht wurde ihr über den Kopf geworfen und blitzschnell fest zugezogen. Ein paar Sekunden lang war Paula vor Schreck wie gelähmt.
Der Draht schnitt durch den Rollkragen
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