Hexenkessel
war kein einziger Wachposten in der Nähe.
Unter normalen Umständen hätte Brand ein großes Team ausgewählter Männer mit nach England gebracht, doch sie alle waren Opfer der furchtbaren Katastrophe in Kalifornien geworden. Irgendwie empfand er es als unheimlich, in dem riesigen Gebäude mit Heather und Mrs. Drayton allein zu sein.
Plötzlich kam es ihm in den Sinn, ein bewaffnetes Team von der Venetia herüberkommen zu lassen, doch verwarf er den Gedanken sofort. Es war von größter Wichtigkeit, daß die gesamte Besatzung an Bord blieb. Jedes noch so kleine Anzeichen dafür, daß Männer an Land gingen und sich auf den Weg nach Mullion Towers machten, würde nur unnötige Aufmerksamkeit auf ihn lenken.
Er ging zu einem großen Schrank und öffnete die Tür. Eine Auswahl der verschiedensten Kleidungsstücke hing darin, unter anderem auch einige recht ausgefallene. Er setzte eine karierte Schirmmütze auf, streifte einen schäbigen alten Regenmantel über und betrachtete sich dann im Spiegel. Die Verwandlung, die mit seinem Äußeren vorgegangen war, verblüffte ihn. Im selben Moment kehrte Heather zurück.
»Oh, das tut mir leid«, begann sie. »Eigentlich suche ich …«
Dann hielt sie inne und starrte die Gestalt mit der Schirmmütze, die sie unverwandt ansah, ungläubig an.
»VB! Ich hätte Sie fast nicht erkannt.«
»Das ist auch der Zweck der Übung. Der Gegner kann bereits draußen lauern. Statt mit dem Rolls zum Hafen zu fahren, werden wir den alten Ford Escort nehmen, der in der Garage steht. Ich möchte, daß Sie ihn chauffieren. Nehmen Sie nur einen Koffer mit - Sie können sich alles kaufen, was Ihr Herz begehrt, sobald wir in Beirut sind.«
»Und wie kommen wir vom Hafen auf das Schiff?«
»Ein Motorboot erwartet uns, das uns zur Venetia bringen wird. Wir müssen so unauffällig wie möglich an Bord gehen, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist.«
Beim Sprechen entledigte sich Moloch des Regenmantels sowie der Mütze und hängte beides wieder in den Schrank. Zufrieden nahm er zur Kenntnis, daß Heather die merkwürdige Entwicklung der Dinge als Teil ihres Jobs hinnahm. Sie schien ihm von all seinen Assistentinnen bislang die gleichmütigste zu sein. Moloch hatte ein scharfes Auge für kompetente, gelassene Frauen, die ihm im Gegenzug für ein immens hohes Gehalt ihre uneingeschränkte Loyalität schenkten.
»Hört sich an, als wäre Ihr Unternehmen perfekt organisiert«, bemerkte sie. »Und Mrs. Drayton hat mir ausgerichtet, daß das Dinner bereitsteht. Sie sagte, wir würden hoffentlich nicht die halbe Nacht vertrödeln, wenn sie sich schon die Mühe gemacht habe, eine warme Mahlzeit zuzubereiten.«
»Dann wollen wir sie nicht warten lassen. Hat Carson den Funkspruch durchgegeben?«
»Ja, selbstverständlich sofort.«
Als Moloch die geschwungene Treppe hinunterstieg, begann die unnatürliche Stille an seinen Nerven zu zerren. Normalerweise wäre er jetzt von mehreren Wachposten, von denen einige auch als Bedienstete fungierten, respektvoll begrüßt worden. Seine Schritte und die von Heather schienen ihn zu verfolgen, hallten hohl im Raum wider, als er über den Parkettfußboden der Halle schritt.
Er überprüfte rasch die Schlösser und Ketten der schweren Eingangstür, wobei er sich reichlich närrisch vorkam. Was hatte er denn schon zu befürchten? Aber er war es seit vielen Jahren gewohnt, von Personal umgeben zu sein, sobald er sein Büro verließ. Hastig durchquerte er die Halle, betrat das geräumige holzgetäfelte Eßzimmer und ließ sich an dem langen Tisch nieder. Ihm fiel auf, daß Heathers Gedeck ganz am anderen Ende des Tisches stand.
»Kommen Sie, setzen Sie sich neben mich«, forderte er sie auf.
»Heißt das etwa, daß ich die Sitzordnung wieder ändern soll?« empörte sich Mrs. Drayton, die gerade mit einer Terrine den Raum betreten hatte.
»Genau das«, bellte Moloch barsch.
»Wenn Sie mir das gleich gesagt hätten, wäre es besser gewesen. Soll ich auch in Zukunft die Mahlzeiten so servieren?«
»Sie haben es erfaßt.«
Moloch sah keinen Grund, ihr zu verraten, daß dies wahrscheinlich die letzte Mahlzeit war, die er in Mullion Towers einnehmen würde. Er durfte nicht vergessen, ihr einen Umschlag mit Geld und einer Notiz, daß ihre Dienste nicht mehr länger benötigt wurden, zu hinterlassen. Dummerweise wußte er nicht, wieviel Brand ihr immer gezahlt hatte.
Neben ihm an seinem Stuhl lehnte der Aktenkoffer, den er aus seinem Büro mit nach unten gebracht
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