Hexenkind
eigentlich fragen wollen, wann der Bus bestellt war, mit dem ein Teil des Teams nach Siena fahren sollte, aber jetzt unterließ er es. Es war wie es war. Ändern konnte er es sowieso nicht, er hoffte nur inständig, dass er die Zeit für ein paar Züge Marihuana haben würde, bevor er zwei lange Stunden im Bus überstehen musste.
Zwanzig Minuten später landeten sie in Florenz. Er hatte Mühe, die schmale Treppe aus dem Flugzeug hinunterzugehen,
ohne die Balance zu verlieren und kopfüber auf das Rollfeld zu stürzen. Er ging wie ein alter Mann, auf jeden Schritt bedacht und immer darauf konzentriert, nicht zu fallen.
Der Himmel über Florenz war bedeckt, und die Luft für November viel zu warm. Erneut brach ihm der Schweiß aus, als er zum Shuttle-Bus ging, der bereits wartete. Keine Zeit für etwas Dope, aber wenigstens hatten ihn die italienischen Zöllner nicht kontrolliert.
Im Bus war es noch stickiger als draußen, und er fühlte sich so elend wie schon lange nicht mehr. Die Fenster des Busses ließen sich alle nicht öffnen, und er hatte Lust, sämtliche Scheiben einzuschlagen.
Auf den freien Platz neben ihm setzte sich Tim, der Ausstatter des Films. Sie hatten schon in mehreren Projekten zusammengearbeitet und sich angefreundet.
»Mein Gott, Amadeus«, sagte Tim und grinste. »Du siehst ja richtig Scheiße aus!«
Er zuckte nur die Achseln.
Tim wusste, dass Amadeus gern und regelmäßig einen über den Durst trank, aber dessen gesamte Suchtliste kannte er nicht. Als Filmkomponist war es Amadeus immer gelungen, den Schein zu wahren. Er ließ sich ein paar Mal am Set blicken, als es ihm gut ging, Gespräche mit Tobias führte er nur, wenn sein Drogenspiegel den richtigen Level hatte und er ruhig und vernünftig argumentieren konnte, und ebenso vorsichtig war er, wenn er im Schneideraum gebraucht wurde.
Ansonsten arbeitete er zu Hause, meist nachts. Er sah sich den Film immer und immer wieder an, bis er die Bilder träumte, bis sie in seinen Gedanken ständig präsent
waren und er in seinem Kopf die Musik dazu hörte. Wenn es dunkel und still wurde und der Cannabisnebel seinen Geist davonfliegen ließ, dann tobten ganze Orchester in seinem Gehirn. Wie im Rausch schrieb er die Noten aufs Papier, solange er die Musik hörte. Und er hörte sie nächtelang.
Als er die Musik für den Film durchkomponiert hatte, war ein orgiastisches Werk entstanden, das aus den schlichten Bildern von Tobias ein Feuerwerk der Sinne machte. Nur lief dies beim Zuschauer derart im Unterbewusstsein ab, dass es die meisten, die den Film sahen, gar nicht realisierten. Er, nur er allein hatte gezaubert und einen Tobias auf den Olymp gehoben, der dort noch lange nicht hingehörte.
Zwei Monate hatte er nur in den Bildern und der Musik gelebt. Danach war er mehrere Kilo leichter, vollkommen übermüdet, mit den Nerven fertig und vegetierte in einer Wohnung, die nur noch als Müllhaufen zu bezeichnen war.
Die Cutterin Sybille, die ihn im Schneideraum immer faszinierend gefunden hatte, besuchte ihn eines Tages überraschend und ging bereits nach einer Viertelstunde wieder, als sie sah, wie er hauste.
Für seinen Freund Tim war die Reise nach Siena allerdings ein Heimspiel. Siena war Tims zweite Heimat, er hatte dort eine kleine Wohnung und hielt sich nur in Deutschland auf, wenn er aus beruflichen Gründen unbedingt musste. Da Tim wusste, wie unwohl sich Amadeus in Hotels fühlte, hatte er ihn eingeladen, ein paar Tage bei ihm zu wohnen. Denn in Hotels im Nichtraucherzimmer mit einer Minibar, die nur mit Wasser und Fruchtsäften gefüllt
war, wurde ein Musiker wie er verrückt, ihm nutzte kein Frühstücksbuffet, das längst abgeräumt war, wenn er aufwachte, und der Roomservice, der morgens um neun ins Zimmer platzte und ihn aus dem Tiefschlaf riss, regte ihn maßlos auf.
Tims großzügiges Angebot, bei ihm schlafen zu dürfen, war letztendlich auch ausschlaggebend gewesen, dass er die Reise nach Siena überhaupt zugesagt hatte.
Der Bus hielt vor dem Hotel »Nuove Donzelle«, wo das Team untergebracht war. Sie hatten von dort nur fünf, sechs Minuten bis in die Via delle Terme zu laufen, wo Tim wohnte. Das Haus hatte die besseren Zeiten bereits hinter sich, der schmutzige, beigefarbene Putz blätterte großflächig von der Fassade, fast alle dunkelbraunen und düster wirkenden Fensterläden waren geschlossen. Kleine Austritte mit schmiedeeisernen Geländern ersetzten Balkone, ohnehin eine Seltenheit in Siena.
»Benvenuto in
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