Hexenkind
Leidenschaft eines vierzehnjährigen Mädchens für seinen achtzehnjährigen Bruder. Filme dieser Art interessierten ihn zwar nicht die Bohne, aber er beschloss, hinzugehen und ein bisschen Festivalluft zu schnuppern. Allemal besser, als in dieser Wohnung hängen zu bleiben und sich wieder die Kante zu geben.
Im Wörterbuch schlug er nach, dass Klavierstimmer »accordatore di pianoforti« hieß. Er durchsuchte die gesamte Wohnung nach einem Branchenbuch, fand aber keines. Tim schien noch nicht mal ein normales Telefonbuch von Siena zu besitzen. Dass er mehrere Monate im Jahr in dieser Wohnung verbrachte, konnte er sich immer weniger vorstellen.
Als er auf die Straße trat, hatte es aufgehört zu nieseln, es war viel Betrieb, um diese Zeit machten die Sienesen ihre Nachmittagseinkäufe. Tims Haus direkt gegenüber gab es einen kleinen Laden, »Pizza e vai«, eine Viertelpizza zum Mitnehmen für zwei Euro. Der Geruch von geschmolzenem Käse, geschmorten Peperoni, gebratener Salami und scharfer Tomatensoße stieg ihm in die Nase. Er bekam Appetit, kaufte sich ein Stück Pizza und schlenderte langsam Richtung Piazza del Campo.
58
Elsa verbrachte fast den gesamten Samstag in der Unibibliothek. Sie wusste einfach nicht wohin. Seit Tagen war der Himmel über der Toskana trüb, regnerisch und wolkenverhangen, die Luft schwer und feucht, die Nässe drang durch jeden Pullover und jede Jacke, die Wäsche trocknete nicht mehr – weder draußen noch in der Wohnung. Elsas Mitbewohnerin Anna war mit ihrem Freund im Chianti zur Olivenernte, sie wollte frühstens Ende November wieder zurück sein.
Seit zwei Tagen fühlte Elsa sich wie gelähmt, hatte zu nichts Lust, es gab nichts, was ihr nicht sinnlos erschien. Sie wusste ganz genau, dass sie dabei war, in eine Depression hineinzuschlittern, und versuchte verzweifelt, sich abzulenken. Sie redete sich ein, dass ihre schlechte Stimmung nur am Wetter und nicht an Antonio lag, sie ging bummeln, rief Freundinnen an, mit denen sie teilweise schon Jahre nicht mehr gesprochen hatte, und verkroch sich in der Bibliothek. Doch nichts, was sie las, drang wirklich bis in ihr Bewusstsein, ihr Verstand war wie ausgeschaltet, auch als sie die Fachliteratur ließ und es mit Belletristik versuchte. Nichts interessierte sie. Absolut nichts.
Sie überlegte ernsthaft, übers Wochenende nach Montefiera
zu fahren, aber sie wollte weder ihrer Mutter noch ihrem Vater begegnen. Eine schier unmögliche Vorstellung, ihr einfach so in die Augen zu sehen, Belanglosigkeiten auszutauschen, freundlich und verbindlich zu sein und irgendwann gar zur Tagesordnung überzugehen. Wahrscheinlich würde dies alles nie mehr möglich sein.
Aber Edi tat ihr leid. Edi, der pausenlos auf sie wartete. Tag für Tag, Nacht für Nacht, Stunde für Stunde. Der Tiger an seinen Bauch drückte, Wassereimer holte, »tutti paletti« sagte und Regenwürmer schluckte – nur damit sie endlich zu ihm kam. Aber sie kam nicht.
Elsa schlug ihr Buch so laut zu, dass alle anderen Leser im Saal zusammenzuckten, und brachte es zurück zum Tresen, an dem den Studenten die Leseerlaubnisse erteilt wurden. Es hatte keinen Zweck mehr, sie musste raus. Es war zu still hier, zu grelles, zu weißes Licht.
Von der Uni aus ging sie in Richtung Zentrum, ziellos schlendernd. Sie sah in Schaufenster, ohne wirklich wahrzunehmen, was sie sah. Trank einen Espresso und kaufte Tomaten und Basilikum. Hatte plötzlich Appetit auf einen Tomatensalat. Wenn sie jetzt nicht allein wäre, würde sie sich drauf freuen. Aber sie war allein. So verdammt allein wie noch nie in ihrem Leben.
Natürlich ging sie durch seine Straße. Sie konnte gar nichts anders. Aber in Antonios Fenstern war kein Licht. Er war also auch unterwegs. So wie sie. Irgendwo in Siena. Aber sicher nicht allein.
Elsa überlegte, ob sie ins Kino gehen sollte, aber dann ließ sie es bleiben. Sie hatte nicht das Gefühl, sich heute Abend noch auf fremde Schicksale und die Probleme anderer Leute einlassen zu können.
In einer kleinen Trattoria aß sie für sechs Euro Spaghetti aglio, olio e peperoncino und bestellte sich anschließend noch eine Bruschetta für drei Euro, weil sie von dem winzig kleinen Nudelgericht einfach nicht satt war. Auf einen einsamen Tomatensalat in ihrer Wohnung hatte sie keine Lust mehr. Der Kellner sah sie an, als sei sie gerade dabei, an einem Vielfraßwettbewerb teilzunehmen, als er die Bruschetta brachte, doch er sagte nichts, wofür Elsa ihm sehr dankbar war. Sie
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