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Hexenkind

Hexenkind

Titel: Hexenkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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war ohnehin kurz davor, ihm an die Gurgel zu springen.
    Anderthalb Stunden später und mit zwei Vierteln Wein im Kopf verließ Elsa die Trattoria. Sie nahm ihr Handy aus der Tasche und rief zu Hause an.
    »Ist sie da?«, fragte sie ohne Begrüßung. »Ja«, antwortete Romano. »Sie will das ganze Wochenende zu Hause bleiben.«
    »Okay«, murmelte Elsa enttäuscht, »okay, okay, okay. Va bene. Dann melde ich mich nächste Woche wieder. Grüß Edi von mir und pass auf dich auf.«
    Sie wartete nicht mehr ab, was Romano erwiderte, und legte auf.
    Beinah wäre sie wirklich noch nach Montefiera gefahren, aber wirklich nur beinah.
    Sie achtete nicht auf die Zeit und wusste hinterher nicht, ob sie ein oder zwei Stunden unterwegs gewesen war. Sie registrierte auch nicht, dass sie im Kreis lief, aber sie stand zweimal vor demselben Schmuckgeschäft, in dessen Schaufenster eine Kette lag, die ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf ging. Unbeschreiblich schön und unbeschreiblich teuer. Hoffnungslos, auch nur von ihr zu träumen.

    Allmählich spürte Elsa eine leichte Müdigkeit, als sie weiter durch die Straßen ging. Sie stolperte enge Gassen bergauf und bergab, stieg Treppen hinauf und hinunter oder schlenderte an kleinen Geschäften vorbei, die um diese Zeit eins nach dem andern schlossen. Eisengitter ratterten vor den Türen hinab und wurden im steinernen Fußweg versenkt und verschlossen, Fensterläden klappten zu, und Lichter gingen aus. Es wurde stiller in Siena, die Passanten zogen sich in ihre Wohnung oder in Restaurants zum Cena zurück, um zu Abend zu essen.
    Vielleicht lag es an der ruhiger werdenden Stadt, dass Elsa die Klaviermusik hörte, die wie die Flut an einem ausgewaschenen Strand langsam durch die stillen Gassen zu fließen schien. Sie ging den Tönen entgegen und hörte es immer deutlicher: Irgendjemand spielte virtuos auf einem Flügel, sodass es Elsa erschien, als würde die Musik die ganze Stadt erfüllen und erfassen.
    Nach der nächsten Ecke sah sie das erleuchtete Fenster. Hinter einer dünnen Gardine tobte ein Mann am Flügel. Seine Haare tanzten um sein Gesicht, wenn er den Kopf in den Nacken warf, seine Hände flogen über die Tasten, sein nackter Oberkörper bebte und zuckte, die Musik, die er dem Flügel entlockte, war wie eine Explosion, wie ein Feuerball am schwarzen Nachthimmel, der zerplatzt und in tausend glühenden Funken zur Erde fällt.
    Elsa hatte etwas Derartiges in dieser Intensität und Vollkommenheit noch nie erlebt.
    Regungslos stand sie in der Via delle Terme und hörte zu. Lange. Und sie wunderte sich, dass sie auf der Straße die Einzige blieb. Fasziniert beobachtete sie diesen Wahnsinnigen,
der ab und zu mit der flachen Hand auf die Tasten schlug, aufsprang, durchs Zimmer mehr rannte als lief, gierig aus einer Flasche trank und dann weiterspielte. Noch wilder, noch kraftvoller, noch genialer als zuvor.

59
    Er war betrunken und bekifft, aber nicht so sehr, dass ihm seine Hände, Gedanken und Gefühle den Dienst versagten. In dieser Nacht kreierte er Melodien und verankerte sie fest in seinem Kopf. Ganz dunkel, in der hintersten Ecke seines Bewusstseins war ihm klar, dass er in einer heruntergekommenen Wohnung in Siena um sein Leben spielte, während die Filmpreise ohne ihn vergeben wurden und vielleicht statt seiner jemand anders auf der Bühne stand, um einen Campanile entgegenzunehmen. Aber es war ihm vollkommen egal. Schon morgen würde sich niemand mehr an die Preisträger erinnern, aber diese Musik war ein Geschenk dieses Abends und würde ihm im Kopf bleiben, bis er sie aufs Papier gebracht hatte.
    Sein Künstlername »Amadeus« war Programm, Gefühl und Leidenschaft, er war das, was sein ganzes Leben ausmachte. Vor einigen Jahren hatte er sich in seiner Bude eingeschlossen und eine Woche lang ohne Unterlass nur Mozart gespielt. Ein Freund fand ihn schließlich verwirrt und dehydriert und alarmierte den Notarzt. Im Krankenhaus päppelte man ihn wieder auf. Von diesem Tag an nannte er sich Amadeus, und bald gab es niemanden mehr, der seinen bürgerlichen Namen überhaupt noch kannte.

    In seiner Phantasie liefen Filme, die er mit seinen Klängen untermalte und kommentierte, Bilder die sich überschlugen, Pirouetten drehten und dann wieder im Nebel versanken. Bilder von Situationen und von Frauen, die in seinem Leben wichtig waren oder gewesen waren.
    Zum Beispiel seine Managerin Gunda. Sie war eine dralle Fünfundvierzigjährige, die knallrote Lippenstifte und altmodischen

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