Hexenkind
Wehe vorüberging. Dann wusch sie in aller Ruhe das Frühstücksgeschirr zu Ende ab, lief ins Schlafzimmer und packte ihre Tasche. Aus abergläubischen Gründen und aus Furcht, dass das Kind zu früh geboren werden könnte, hatte sie die paar Dinge, die sie brauchte, noch nicht zusammengesucht. Aber jetzt waren es nur noch drei Tage bis zum errechneten Geburtstermin, und Sarah war froh, dass sie die Schwangerschaft diesmal so problemlos und ohne Komplikationen bewältigt hatte.
Sie legte noch etwas Make-up auf, tuschte sich die Wimpern und ging hinunter, um Teresa Bescheid zu sagen und Elsa in ihre Obhut zu geben.
Romano arbeitete zusammen mit Enzo hinter dem Haus. Beide reinigten mit einem Sandstrahler alte Mattoni von Farb- und Zementresten.
»Es ist soweit«, sagte sie zu Romano. »Lass uns nach Montevarchi ins Krankenhaus fahren.«
Romano wurde blass und ließ augenblicklich alles fallen, was er gerade in der Hand hatte. Enzo schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter.
»Ihr schafft das schon. Jeden Tag werden Tausende gesunde Kinder geboren, warum sollte eures nicht dabei sein? Ihr werdet ein wundervolles Kind bekommen, da bin ich ganz sicher.«
Enzo umarmte Romano und Sarah zum Abschied und brachte sie zum Auto. Teresa stand vor dem Haus und ließ ihren Rosenkranz durch die Finger gleiten. Sarah hatte den Eindruck, sie betete schneller als sonst. Aber vielleicht kam es ihr auch nur so vor, weil Teresa am ganzen Körper zitterte und Tränen in den Augen hatte, als sie losfuhren.
»Meine Mutter war gerührt«, meinte Romano im Auto, als sie die kurvige Straße hinunterfuhren. »Das hatte ich jetzt nicht erwartet. Wenn das Kind geboren ist, dann ja, aber noch nicht jetzt.«
Sarah ersparte sich jeden Kommentar. Sie befürchtete im Gegensatz zu Romano, dass Teresas Vorbehalte gegen sie schlimmer werden würden, wenn sich die ganze Aufmerksamkeit der Familie auf das Neugeborene konzentrierte und Teresa noch mehr in den Hintergrund rückte.
Zwischen Bucine und Levane fuhren sie hinter einem Sattelschlepper her und hatten keine Chance zu überholen. Sarah redete nicht mehr, sie schloss die Augen und atmete tief, um die nun immer kürzer aufeinander folgenden Wehen zu überstehen. Romano brach der Schweiß aus.
»Accidenti! Madonna mia! Vai!«, schrie er und schlug mit der flachen Hand aufs Lenkrad. »Was für ein stronzo! Maledetto! Ich werde verrückt! Was ist, Sarah?«
»Alles gut. Keine Sorge.«
»Porcamiseria! Madonna, aiuta!«
Romano hupte wie ein Verrückter, was den Sattelschlepper aber nicht im Entferntesten juckte.
»Überhol nicht, Romano! Fahr vorsichtig. Besser wir kommen zehn Minuten später im Krankenhaus an als gar nicht.«
»Si, si, si, carissima. Ich weiß.«
Sarah hatte Romano noch nie so nervös und aufgewühlt erlebt, und sie liebte ihn dafür.
Zwanzig Minuten später hielt Romano mit quietschenden Bremsen vor dem Krankenhaus in Montevarchi. Die Wehen kamen bereits alle zweieinhalb Minuten, und Sarah wurde sofort in den Kreißsaal geschoben. Romano lief neben ihr her, hielt ihre Hand und wischte ihr den Schweiß von der Stirn, wenn sich ihr Gesicht vor Schmerz verzerrte.
»Du schaffst es, amore. Sto qui. Ich bin bei dir.«
Er war ihr nie näher gewesen.
Der Arzt stand vor ihren gespreizten Beinen, als er das kleine blutige und verschleimte Bündel Fleisch aus ihr herauszog. Romano wünschte den Arzt und die Hebamme ans Ende der Welt, um endlich mit ihr allein sein zu können.
Die Hebamme packte das Kind an den Füßen und hielt es hoch. »Es ist ein Junge«, sagte sie. »Ein Prachtkerl, und wenn er jetzt auch noch schreien würde …«
Aber der Winzling gab nur ein paar gurgelnde und röchelnde Laute von sich.
Sie lief mit ihm zu einer Kommode, schob ihm einen Schlauch in den Mund und saugte den Schleim ab. Das Baby fing an zu schreien. Zuerst leise und zaghaft, dann etwas lauter. Aber es klang mehr wie eine Melodie.
»Immerhin etwas«, meinte die Hebamme zufrieden und legte Sarah das winzige Baby auf den Bauch. Der kleine Körper verschwand fast unter Sarahs Fingern, die den zerbrechlichen Rücken sanft streichelten. Romano küsste sie.
Oh Dio, betete er in Gedanken, ich danke dir. Verdammt noch mal, ich danke dir so sehr. Madonna mia, grazie per tutto!
31
So einen ungewöhnlich warmen und schönen Herbst hatte es noch nie gegeben, jedenfalls nicht, solange man in Montefiera denken konnte. Und die Erinnerung ging bei den Einheimischen mindestens zwei Generationen
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