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Hexenkind

Hexenkind

Titel: Hexenkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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    Bremsen saßen in diesen warmen Tagen wie eine biblische Plage in Scharen auf Autodächern, Büschen und Bäumen und überfielen jeden, der sich in den Wald oder aufs freie Feld wagte.
    Elsa kutschierte ihren kleinen Bruder Edi, den ihre Eltern Eduardo getauft hatten, wie jeden Nachmittag durchs Dorf. Eduardo war Romanos Großvater gewesen, der bei der Olivenernte verunglückt war, als Romano zehn war. Er war vom Baum gefallen und in eine Schlucht gestürzt, wo man ihn erst zwei Stunden später mit gebrochenem Rückgrat fand. Romano hatte ihn über alles geliebt und war glücklich, dass jetzt sein Sohn den Namen Eduardo trug.
    Elsa fürchtete sich vor den Bremsen. Ihre Beine waren mit unzähligen, dicken, juckenden Quaddeln übersät, die suppten und eiterten und gut zwei Wochen lang nicht verheilten. Sie hasste es, mit Edi spazieren gehen zu müssen, und sie hasste Edi, der seit seiner Geburt im Hause Simonetti
einfach der Mittelpunkt der Welt war. Jeder Atemzug Edis wurde beobachtet und überwacht, er musste gar nichts tun – er musste einfach nur da sein und schlafen und war eine Sensation. Und er ging Elsa von Tag zu Tag mehr auf die Nerven.
    Elsa war jetzt fünf, konnte mittlerweile fließend Italienisch und siebenundzwanzig mit sechsundfünfzig multiplizieren, sie wusste, dass neunzehn mal neunzehn dreihunderteinundsechzig war und konnte vierzehntausendsiebenhundertneunundachtzig im Kopf durch dreiundzwanzig teilen, was niemandem in ihrer Familie gelang. Sie rechnete fehlerfrei und fixer als die Bäckersfrau in Ambra, wenn sie am Wochenende Pane, Panini, Kuchen und Kekse kaufte. War sie in der Macelleria, sagte sie der Wurstverkäuferin schneller als die Registrierkasse, dass bei einem Kilopreis von achtzehntausendsechshundert Lire zweihundertfünfundvierzig Gramm Prosciutto crudo viertausendfünfhundertzehn Lire kosteten – aber es interessierte niemanden. Elsa war nicht mehr das Wunder der Familie, sondern Edi durch seine bloße Anwesenheit.
    Hatte Elsa als Baby fast ununterbrochen geschrien, so schrie Edi fast nie. Er lag still in seinem Bettchen und war mit sich und der Welt zufrieden.
    »Er ist eben ein Kind der Liebe«, meinte Sarah stolz. »Diese Kinder sind von Natur aus glücklicher.«
    Dieser Satz brannte sich in Elsas Seele.
    Wenn ihre Eltern oder Großeltern in der Nähe waren, küsste sie ihn auf die Stirn und kitzelte ihn sanft an den Füßen, bis er ein wenig strampelte und wohlig gluckste. Wenn sie allein mit ihm war, kniff sie ihn brutal in die Waden
und in die Wangen und zog ihn beim Wickeln an seinem winzigen Schwänzchen bis er schrie.
    Aber davon bekam niemand etwas mit.
    Elsa schob den Kinderwagen durch Montefiera, die Bremsen umschwirrten sie zu Hunderten, setzten sich auf ihren Rücken, ihre Beine, flogen in ihre Haare und prallten mit lautem Surren gegen ihr Gesicht. Schlagen half wenig, es waren einfach zu viele, Elsa spürte unentwegt, wie die Biester zubissen.
    Währenddessen lag Edi wohlbehütet unter einem Moskitonetz, das den Kinderwagen überspannte. Auf dem Netz krabbelten unzählige Bremsen und suchten einen Weg ins Wageninnere.
    Als Elsa wusste, dass sie vom Haus ihrer Eltern aus nicht mehr zu sehen war, schlug sie das Moskitonetz zur Seite.
    Bereits nach wenigen Minuten saßen und tanzten die Bremsen auf Edis nackten Armen und Beinen, der nur eine Windel und ein dünnes Hemdchen trug. Edi schrie, und Elsa versuchte ihn mit zärtlichen Worten zu beruhigen, die jeder im Dorf hörte, der im Schatten auf der Piazza oder unter Feigenbäumen in einem kleinen Vorgarten saß. Was hat er doch für eine liebevolle Schwester, dachten die Leute und winkten Elsa freundlich zu.
    Noch zwei Stunden später beim Abendessen schrie Edi unerträglich laut und unerträglich lange. Ein Kind der Liebe, dachte Elsa, und sein Brüllen war Musik in ihren Ohren.
    Sarah und Romano fuhren schließlich mit Edi zum Pronto Soccorso, wo man seine zahlreichen Bremsenstiche mit kühlender Salbe einrieb und ihm eine Kalziumspritze gab.

    »Hatte Elsa denn kein Moskitonetz über dem Kinderwagen?«, fragte Romano.
    »Doch, natürlich. Ich hab wirklich nicht die geringste Ahnung, wo er die vielen Stiche herhat.«
    Romano fragte nicht weiter.

Toskana, Juni 1990 – fünfzehneinhalb Jahre vor Sarahs Tod
    32
    Es war das Sommerfest der Benedettis im Juni 1990, zweieinhalb Jahre nach Romanos und Sarahs Ankunft in Italien, als die Heimlichkeiten anfingen.
    Frederico Benedetti war ein Aristokrat aus Palermo,

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