Hexenkunst: Historischer Roman (German Edition)
dem steinernen Gesicht Schwester Natalias vergeistigte Züge zu verleihen, wodurch sich aus dem Marmor eine beseelte Frau entpuppte.
Das bestätigte ihr auch Leonardo, und als sie eines Tages wieder mit Kopftuch hinaus ins Bildhaueratelier gehen wollte, hielt er sie davon ab: "Willst du deine Natalia jetzt verunstalten?"
"Aber . ."
"No, Cara mia, an dieser Büste wäre jetzt jeder weitere Handgriff zum Nachteil. Und beginne momentan auch keine neuen Skulpturen, weder hier noch in der Gießerei, richte fortan deine Konzentration einzig auf die Malstudien."
Dieser Anordnung kam Lucia gerne nach.
Mensch und Natur hatten sich gerade an den sonnenreichen Heuert gewöhnt, als zunächst in Italien und bald allerorts in Europa dunkel die Trauerglocken läuteten. Papst Innozenz hatte sein Leben ausgehaucht.
Trauer war angesagt. Die vom Volk auch eingehalten wurde, zumindest äußerlich. Innerlich aber hofften die Menschen, vorwiegend die Italiener, auf endlich zwanglosere Jahre unter einem menschlicheren Papst.
Nach bereits vier Tagen erfuhren sie: Die Kardinäle hatten sich als ihr neues Oberhaupt einen Amtsbruder aus dem verruchten Borgia-Geschlecht erwählt. Papst Alexander VI. nannte er sich.
Kein Aufatmen darauf beim italienischen Volk.
Schön, bald verringerte sich die Anzahl der gefürchteten Ketzer-Häscher, und die restlichen erfüllten ihre Aufgabe nicht mehr allzu eifrig. Dafür ängstigten sich die Italiener jetzt umso mehr vor den plötzlich vermehrt ausbrechenden päpstlichen Eroberungskriegen.
Doch letztendlich verlief das Leben fürs Volk weiter wie bisher, man arrangierte sich eben.
Künstler hatte Politik noch nie sonderlich interessiert.
Was derzeit vornehmlich auf Lucia zutraf, sie hatte den Papstwechsel kaum registriert. Denn seit sie mit ihren neuen Malstudien beschäftigt war, weilte sie mehr in der Kunst- als auf der Erdenwelt. Das hatte sich von Woche zu Woche gesteigert, ohne, dass Leonardo ihr auch nur eine Anregung dazu erteilt hatte. Und da er mit Freuden beobachtete, wie deutlich ihr Können durch diese Studien zu Tage trat, ließ er sie unbeeinflusst damit fortfahren.
Carlo konnte Lucias künstlerische Fortschritte nun nicht mehr verfolgen, allerdings hätte er sie wegen seines mangelnden Farbensinns auch kaum in ihrer ganzen Fülle ermessen können. Sein großer Wunsch hatte sich endlich erfüllt, er war nun Architekturstudent des großen Baumeisters Donato Bramante. Da aber dessen Bottega, in der Carlo auch wohnte, nebenan auf dem Schlossgelände lag, besuchte er dann und wann abends die Bewohner des Leonardo-Palazzos. Doch bei diesen Besuchen hatte er bisher noch nicht einmal einen Blick ins Farblabor oder ins Malatelier geworfen, beides war für ihn uninteressant geworden.
Ganz anders die beiden Leonardo-Grazoni Nicola und der talentierte Rolando. Wenn sie feststellten, dass Lucia mit ihren Malstudien beschäftigt war, mieden sie zwar rücksichtsvoll das Labor, doch es verging kein Tag, an dem sie nicht staunend den Fortschritt ihrer beiden Gemälde, an denen sie abwechselnd arbeitete, ins Auge fassten.
Zweimal wöchentlich erteilte Lucia nun Nicola und Rolando Laborunterricht. Wegen dieser Tätigkeit und weil Lucia alleinverantwortlich das Labor leitete, nahm Leonardo keine Studiengebühr mehr von ihr an. So hartnäckig Lucia sie ihm immer wieder aufzudrängen versuchte, da sie immerhin Kosten in seinem Haushalt verursachte, er nahm sie nicht an. "In diesem Punkt bist aber du der Sturkopf", hatte sie ihm bei einer dieser Gelegenheiten vorgeworfen, worauf er gekontert hatte:
"Nicht ich, sondern du, meine Liebste, weil du immer wieder darauf zurück kommst."
Lucia und Leonardo waren mehr als verliebt ineinander, sie liebten sich. Sie auf jungfräulich scheue Weise und er mit dem Bemühen, stets sein immer wieder auftauchendes Verlangen nach ihr unter Kontrolle zu halten. Dennoch beflügelten beide ihre Gefühle zueinander, die sie sich mit Blicken, Gesten und Worten eingestanden, und das war wundervoll.
So führte Lucia hier ein erfülltes Dasein und überdies empfing sie heute aus Meran einen positiven Bericht. Herr von Lasbeck teilte ihr mit, der Verkauf floriere mittlerweile so gut, dass keine Waren mehr vernichtet werden brauchten und die Produktion bald mehr fabrizieren müsse als je zuvor. Besonders mahagonirot, das offenbar in Meran und seinem Umkreis zur Modefarbe werde. Darüber hinaus berichtete er Lucia Erfreuliches von ihrer Familie. Ihre Frau Mutter mache einen frischen
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