Hexenkuss
begann im Herbst, obwohl dies der Abschnitt des Sterbens im Jahr des Gottes war. Im magischen Kalender stand die Ernte bevor, für die sich die Göttin feiern ließ. Und dann, im Winter, würde der Jahreskönig sterben, verschlungen von der dunklen Nacht.
Während Jer auf einem Hügel stand und auf die Stadt hinabblickte, sah er sie glitzern und funkeln - wie Feenmagie -, so ganz anders als die Finsternis, die anzubeten sein Vater ihn gelehrt hatte.
Der Sommer war vergangen, und er hatte sich von Holly Cathers ferngehalten, denn das Ganze war ihm zu unheimlich gewesen, um sich ihr noch einmal zu nähern... Aber er hatte nicht aufhören können, eine Verbindung zu ihr zu suchen, zumindest indirekt. Er hatte alles Mögliche unternommen, um mehr über Holly herauszufinden, und auch im Internet recherchiert. Er wusste schon einiges: Sie war eine Waise aus San Francisco, sie würde ein kleines Vermögen erben, und sie mochte Pferde. Da waren noch ein paar Sachen auf einer Website, die sie zusammen mit einer Freundin namens Tina Davis-Chin gemacht hatte - diese war bei demselben Rafting-Unglück gestorben wie Hollys Eltern. Ihre Lieblingsfarbe war grün, und sie war im Juli geboren. Eine Löwin.
Aber wer sie wirklich war und wer in dieser anderen Welt, wusste er immer noch nicht. Er hatte alles ausprobiert, was ihm einfiel, abgesehen davon, seinen Vater zu fragen, um sich wieder mit dieser letzten Vision zu verbinden - der Vision vom Tod. Er hatte alles versucht, in Dans Hütte geschwitzt, die Runen befragt, sogar dem Gott Merkur von seinem eigenen Blut geopfert. Nichts davon hatte irgendetwas genützt. Es war, als hätte jemand eine magische Barriere aufgebaut, die ihn daran hinderte, irgendetwas in Erfahrung zu bringen.
Könnte Holly Cathers das selbst getan haben? Ist sie eine Hexe? Kann sie diese »Eine« sein, die mein Dad töten will? Aber ihr ist noch nichts passiert. Also glaube ich, dass es jemand anders sein muss. Er hatte täglich die Todesanzeigen in der Zeitung gelesen, aber niemand, dessen Namen er kannte, war gestorben. Das bedeutete noch nicht viel, war ihm aber immerhin ein kleiner Trost.
»Kind der Göttin, komm zu mir«, flüsterte er dem glimmenden Stein in seiner Hand zu. »Ich werde dich schützen.«
Während Wolken vor den Mond huschten und dunkle Vögel in den Tannen hinter ihm auf der Klippe krächzten, begann der Stein in seiner Hand zu glitzern und zu leuchten. Ein sanftes grünes Licht erhellte die Wunde an seinem Handgelenk, wo er Merkur um Hilfe angefleht hatte.
»Ich werde der Fürst zu deiner Fürstin sein und dich vor allem Bösen bewahren.«
Der Stein glühte heller, und Jer flüsterte ihm auf Althebräisch ermunternd zu. Das war seine bevorzugte magische Sprache, obwohl unter Hexern, die mit dem Obersten Zirkel im Bunde standen, Hebräisch nicht sonderlich willkommen war - es war zu eng mit dem christlichen Messias Jesus von Nazareth verbunden.
Aber Jer sprach leise zu dem Stein und lockte das Licht mit Worten der Hitze und Sehnsucht aus dem biblischen Hohen Lied Salomos hervor. Wenn die Christen nur wüssten, welche Macht in diesen Worten steckt...
Der Stein hüpfte leicht in seiner Hand, wurde von Jers Berührung erwärmt, und nun war das grüne Leuchten so hell wie eine Hundertwattbirne.
»Ja, ja, meine Schöne«, drängte er ihn wie eine Geliebte.
Im Licht des Steins formten sich Bilder, erst sehr vage, dann schwammen sie immer deutlicher zusammen, als der Stein seine ganze Kraft entfaltete. Jer sah seinen Vater und Bruder in der Kammer in ihrem Haus. Sie waren von wolkigen Schleiern in Grau und Schwarz umgeben, Vorzeichen böser Werke. Jer konnte sie nicht hören - so mächtig war sein Stein nicht -, aber seine Besorgnis wuchs, als er sah, wie sein Bruder außer Sicht ging und dann mit einer Totenhand zurückkehrte. Die verschrumpelten Fingerspitzen brannten wie Kerzen in einem Leuchter. Sein Vater, im vollen Hexeromat mit Robe und Kapuze, hob die linke Hand mit seinem Athame, den er eigenhändig gefertigt hatte, und zog die Klinge durch jedes Flämmchen.
Die beiden gingen langsam zum Altar, an dem Jer schon so oft mitgeholfen hatte, Vögel und andere Tiere zu opfern. Es war eine uralte Steinplatte, in die Satyrn und Zentauren eingemeißelt waren, und in der Mitte befand sich eine tiefe Kuhle, die das Blut der Opfer aufnahm. In anderen, kleineren Vertiefungen wurden Weihrauch, Kräuter und heilige Hölzer verbrannt - die kleinen Schalen waren vor Jahrtausenden geschaffen
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