Hexenkuss
sie sich nur festhalten konnte. Ein Teil ihres Verstandes blieb vollkommen rational. Ich werde grässlich aussehen. Sie werden am geschlossenen Sarg stehen müssen ...
Irgendwo aus der trüben Tiefe ihrer Erinnerung drangen die Fahrstunden in ihre Gedanken. Nimm den Fuß von der Bremse, befahl sie sich. Doch sie war wie gelähmt vor Angst; sie konnte nichts tun als geradeaus starren, während der Wagen herumwirbelte wie auf einem Plattenspieler.
Dann schien etwas, irgendeine unsichtbare Macht, nach ihrem Fuß zu greifen. Etwas brachte sie dazu, den Motor auszuschalten.
Das ist mein Schutzengel, dachte sie.
Der Wagen machte noch eine Drehung und kam dann rutschend zum Stehen.
»O Gott«, flüsterte sie und stieß die Luft aus. Mit zitternden Händen ließ sie das Lenkrad los und wischte sich die Augen. Tränen nahmen ihr die Sicht, und als sie versuchte, sich zu erinnern, wie man atmete, musste sie sich die rechte Hand vor den Mund pressen, um sich nicht heftig zu übergeben.
Mit der anderen Hand drückte sie auf den Knopf, der das Fenster herunterließ. Das elektrische Surren wurde von Schritten übertönt, die auf sie zu rannten. Eine schattenhafte Gestalt winkte mit beiden Händen über dem Kopf.
Es war Jer, Michaels Sohn.
Was tut er denn mitten in der Nacht hier draußen?, dachte sie. Scham durchflutete sie. Sie wollte nicht mit ihm sprechen - als könnte er ihr irgendwie ansehen, dass sie gerade mit seinem Vater in einem schäbigen Motel gewesen war, nur ein paar Kilometer vom Haus der Deveraux entfernt.
Ehe er den Wagen erreichen konnte, ließ sie den Motor wieder an, legte den Rückwärtsgang ein und schoss mit durchdrehenden Reifen zurück. Dann schaltete sie hastig um, lenkte scharf nach links und fuhr davon, so schnell sie konnte, als fürchtete sie, er könnte sie einholen.
Ich glaube nicht, dass er mich erkannt hat, sagte sie sich und warf einen nervösen Blick in den Rückspiegel. Ich bin in Sicherheit.
Acht
Reiner Mond
Das Schicksal nehmen wir neu in die Hand
Es ist Zeit, alten Hass zu verjüngen
Vor uns ergreift jeder Feind die Flucht
Und wir tanzen in hämischer Freude
Wir tanzen im hellen Mondeslicht
Und lachen und torkeln tief in die Nacht
Alles geht uns jetzt leicht von der Hand
Was den Cahors gefällt, das nehmen wir uns
Kari Hardwickes Augen brannten vor Müdigkeit.
Sie saß in der winzigen Nische, die sie als ihr Büro in der Uni bezeichnete, und arbeitete an ihren Notizen für Dr. Temars Literaturseminar 204 - Gothic Fiction - oder vielmehr, an Dr. Temars Notizen. Sie war dieses Jahr seine Assistentin, und bisher hatte sie so ziemlich alles für ihn gemacht, außer seine Vorlesungen zu halten. Sie bereitete seine Kurse vor und benotete die Arbeiten der Studenten.
Er hat es immerhin geschafft, sein Video selbst mitzubringen, um es im Seminar zu zeigen. Und »sein Video« war wörtlich zu nehmen. Ken Temar war Autor, Regisseur und Hauptdarsteller des Dokumentarfilms Die Wahrheit über Frankenstein. Der Film war vom PBS ausgestrahlt worden und mit ein Grund dafür, dass Dr. Temar diesen Lehrstuhl bekommen hatte. Allmählich fragte sich Kari, wer bei diesem Film wirklich die Arbeit gemacht hatte. Das waren diejenigen, die sich die Festanstellung an der UW verdient hatten.
Aber dazu hat Gott ja die Doktoranden geschaffen, dachte sie
seufzend.
Ihr Chat-Eingang bimmelte, und ihre Stimmung hellte sich auf. Es war Circle Lady, ihre mysteriöse IM-Korrespondentin. Circle Lady meldete sich etwa einmal pro Woche. Sie wusste erstaunlich viel über Hexerei, sowohl über die Schwarze-Magie-Stereotypen als auch über die authentischeren heidnischen Formen, die man unter dem Oberbegriff Wicca zusammenfasste. Kari verdankte es Circle Lady, dass sie überhaupt ein so intensives Interesse an Jer entwickelt hatte. Als er im ersten Semester an ihrem Institut aufgetaucht war, hatte er alle Merkmale eines Menschen gezeigt, der heimlich die »Craft« praktizierte.
Sie hatte ihn bedrängt, und schließlich hatte er sich ein klein wenig geöffnet. Ja, seine Familie praktizierte das alte Handwerk. Nein, sie durfte nicht zusehen. Ja, sie hatten eine Tradition. Nein, sie durfte nicht wissen, wie die hieß. Ja, er würde ein paar Riten und Rituale mit ihr vollziehen.
Wie geht's dir?, fragte Circle Lady.
Müde. Gut, antwortete Kari.
Der Mond nimmt zu. Bald ist Samhain.
Kari tippte: Ja. Als Teenager war sie ganz fasziniert gewesen, als sie erfahren hatte, dass mit dem eher »amerikanischen«
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