Hexenseelen - Roman
reden, herausfinden, was die Totenküsser zu unternehmen gedachten.
Micaela hockte sich vor sie und senkte die Stimme. »Hör mir zu. Du bist in großer Gefahr. Dieser Messias will dich um jeden Preis haben. Du darfst nicht in Hamburg bleiben, du musst unbedingt fort, sonst wird er dich kriegen!«
»Das ist jetzt nicht wichtig.«
»Nicht wichtig?« Die Jägerin schnaubte. »Hast du eine Vorstellung davon, was ich getan habe, um dir zu helfen, um dich dieser …« Ihr Blick schweifte zu Linnea. »… dieser Verrückten zu entreißen? Damit du überhaupt eine Chance bekommst zu überleben? Ich bin deine Tante, ich bin hier, um dich zu retten!«
Ein junger Metamorph mit schwarzen Locken löste sich von dem Grüppchen und kam auf sie zu. »Wirklich? Früher warst du nicht sonderlich nett zu ihr, als sie noch geistesgestört durch den Pesthof kroch.«
Micaela fuhr herum und fauchte ihn an. Doch er kuschte nicht vor ihr, bis die Jägerin von ihr abließ und sich wieder an Ylva wandte, die teilnahmslos die Szene beobachtet hatte.
»Verteufle mich, wenn du willst. Ich musste schreckliche Dinge tun, das gebe ich zu. Aber du weißt selbst, wozu Linnea einen zu zwingen vermag. Ich war zu schwach, ich hatte keine Wahl.« Ihre Augen schimmerten verdächtig feucht. Sie rückte noch näher heran, so dass nur Ylva sie hören konnte. »Ich bereue jede Minute, die ich in der Gemeinde verbracht habe. Aber nun habe ich uns befreit.«
»Befreit?« Ylva wusste nicht, ob sie der Frau glauben durfte, aber das war ihr auch egal. Ihr Entschluss stand fest.
»Ich musste auf eine List zurückgreifen. Selbst konnte ich nichts unternehmen. Linnea hätte mich daran gehindert. So habe ich Stella dazu angestiftet, die Schlange zu töten. Ohne Seelentier - kein Metamorph und
keine Macht. Stella wird mich jagen, sobald sie begreift, dass ich sie reingelegt habe. Aber damit werde ich schon fertig.«
»Deine Mühen waren leider umsonst. Ich bleibe hier.«
Ylva stand auf und wandte sich zum Gehen, als Micaela sie an der Schulter packte. »Was ist mit dir los? Denk doch an all deine Probleme! Hast du schon vergessen? Ich kann dich zu deinem Vater bringen. Ich biete dir eine Gelegenheit, mit deiner Vergangenheit abzuschließen und ein neues Leben anzufangen! Du wirst endlich …«
Müde schob Ylva die Hand fort. »Meine Probleme müssen warten. Denn Conrads sind um einiges dringender.«
Micaela hob den Arm, in einem neuen Versuch, sie aufzuhalten. Ylva fletschte die Zähne, fuhr herum und schnappte nach der Jägerin. Sie erwischte den Daumen. Die Frau schrie auf, buckelte und sprang zur Seite. »Bist du verrückt?«, fauchte sie.
»Ja. Das sollte für dich kein Geheimnis sein.« Ylva lief an der Treppe vorbei zu dem Raum, aus dem sie kurz zuvor die Stimmen gehört hatte. Ihr Herz hämmerte. Sie hatte die Jägerin herausgefordert. Würde sie einen Kampf überstehen, sollte es dazu kommen?
»Ylva, bitte!«, hallte Micaelas Ruf ihr nach, verzerrt und voller Kummer. Alles nur gespielt? Oder doch echt, jetzt, da Linneas Macht über die Gemeinde schwand, da jeder endlich so sein konnte, wie er wirklich war? »Ylva! Was willst du denn tun?«
Sie antwortete nicht, weil sie nichts zu antworten
wusste. Denn ihr Verstand beteuerte unentwegt, es gäbe nichts, was sie tun könnte. Aber wenn sie nichts tat, wenn sie nichts versuchte, würde sie aufhören zu existieren.
Lautlos näherte sie sich der Tür, öffnete sie einen Spaltbreit und blieb auf der Schwelle stehen, da sie plötzlich realisierte, was sie da gerade machte. Wie sicher war sie noch bei den Totenküssern, wenn Conrad keinen mehr davon abhalten konnte, ihr etwas anzutun? Die womöglich ihr die Schuld an der Gefangennahme ihres Oberhauptes gaben? Dabei lägen sie gar nicht so falsch, denn auch sie machte sich Vorwürfe. Wäre sie bei Sinnen gewesen, wäre …
Ylva ballte die Hände. Keine Zeit für Wäre-Hätte-Spielchen. Was passiert war, konnte sie nicht mehr ändern, aber vielleicht das, was noch passieren würde. Sie beschloss, vorerst nur zu lauschen und zu beobachten, bevor sie hereinplatzte, dazu noch ohne jeglichen Plan. Ihr Auftauchen an der Tür blieb unbemerkt.
Die Totenküsser machten einen nicht minder ziellosen und verstörten Eindruck als die verwaisten Metamorphe. Dieser Anblick rührte Ylva. Denn wie verschieden waren sie schon, die zwei unterschiedlichen Spezies? Wir verleugnen es, hätte sie ihnen gern gesagt, aber wenn uns der Boden unter den Füßen weggezogen wird,
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