Hexenseelen - Roman
Königin. Sie mussten es tun, konnten sich aber nach und nach immer weniger erklären, warum. In ihren Gesichtern stand Verunsicherung geschrieben, als würden sie sich fragen, aus welchem Grund die Frau, die am Boden lag, ihnen wichtig sein sollte. Was sie alle hier überhaupt taten. Wer sie überhaupt waren. Zwischen den Versammelten bemerkte Ylva auch Micaela.
Als Letzter kam Adrián. Zerrauft und blutig vom Kampf, mit einem Einschussloch in der Schulter. Ylva sprang auf und stürzte auf ihn zu. So viele Fragen brannten ihr auf der Seele. Was war mit Conrad? Wo war er? Ging es ihm gut? Doch sie brachte keine einzige davon über die Lippen. Ihre Kraft reichte bloß für einen Namen, einen schwachen Hauch, der ihr entwich: »Conrad?«
Der Nachzehrer starrte auf die schwarz-weißen Fliesen unter seinen Füßen. »Er wird nicht zurückkommen. Sie haben ihn.«
Kapitel 19
Y lva wusste nicht, ob sie erneut in eine Trance gefallen war, unfähig, diese abzuschütteln. Als die Leere ein kleines Stück zurückwich und sie sich dazu bereit fühlte, weiter zu … funktionieren, schienen Stunden vergangen zu sein.
Linnea lag weiterhin auf dem Boden und wimmerte wie jemand, der im Schlaf von einem Alptraum geplagt wurde. Ylva empfand Mitleid mit der Frau, aber keinerlei Bindung an sie oder die Gemeinde. Beides war ihr fremd geworden, als hätte sie niemals dazugehört, und dennoch spürte sie eine Art Sehnsucht, einen verwirrenden Wunsch, irgendwohin zu gehören … jemandem zu gehorchen.
Du hast deine Königin verloren. Sie ist nichts ohne ihr Seelentier. Und du bist nichts ohne sie.
Wer sagt das?
Einige Metamorphe waren gegangen, die anderen lümmelten herum, verstört, ziellos, bange. Eine weiße Zwergziege mit braunen Flecken kaute an einer Samtgardine, Micaelas Katze kauerte neben der Tür und fauchte lustlos eine Meise an, die ab und zu an ihr vorbeihüpfte. Überreste der Hamburger Metamorph-Gemeinde. Eine
Handvoll Seelentiere, die nicht gerade für eine große Schlacht geschaffen waren.
»Wir müssen los. Komm mit.«
Ylva löste ihren Blick von der Ziege, die von der einen Gardine abgelassen hatte, um eine weitere zu kosten, und schaute hoch zu Micaela. Doch es fiel ihr schwer, die Frau anzuvisieren, denn die Umrisse verschwammen, die Welt löste sich auf. »Wohin?«
Ein Wort, und schon schien sie all ihre Energie ausgehaucht zu haben. Es musste eine Trance sein, vielleicht stand sie noch unter dem Einfluss von Linneas Duft, vielleicht bildete sie sich all das nur ein. Sie müsste sich nur zusammenreißen, sich aufbäumen und gegen die Hypnose auflehnen, um alles wie früher vorzufinden: den Blumenladen, Conrad und ihren kleinen pelzigen Freund, der auf ihre Schulter krabbeln und von seinem Lieblingsplätzchen aus vergnügt quieken würde.
»Ich bringe dich hier weg. Die Gemeinde zerfällt. Genauer gesagt: Ohne die Königin gibt es sie nicht mehr. Die Jäger sind bereits gegangen.« Micaela schnaubte verächtlich. »Allein die Nichtsnutze haben noch nicht kapiert, dass es vorbei ist.«
Sich auflehnen. Sie musste alles geben für diesen einen, letzten Ruck, der sie aus diesem Horror herausreißen würde. »Du hast meine Frage nicht beantwortet. Wo willst du hin?«
»Wir suchen uns eine neue Gemeinde und bitten die Königin um Aufnahme. Mit dem Initiationsritual bekommen wir ein neues Zuhause. Mach dir keine Sorgen.
Jede Gemeinde braucht gute Jäger, wir werden nicht die Rangniedrigsten sein.«
Sich auflehnen. Ylva schloss die Lider, um sie eine Sekunde später erneut aufzureißen. Die Welt gewann wieder an Konturen. Sie sah Micaela, Linnea, die Ziege … nur nicht den Blumenladen und Conrad. Er wird nicht zurückkommen. Sie haben ihn.
Nein. Er wird zurückkommen. Nur musste sie dafür sorgen. »Ich wünsche dir viel Glück.«
»Du kommst nicht mit? Ylva, ohne Gemeinde kann kein Metamorph lange überleben.«
Lange brauche ich auch nicht zu überleben . Ylva spürte, wie sie lächelte. Nur, bis ich Conrad gerettet habe.
»Ylva …«, begann Micaela erneut. Ihre Stimme verströmte Bitterkeit. »Du verstehst nicht, wir brauchen eine Gemeinde, eine Königin … eine vernünftige Königin.«
Ich brauche Conrad. Ich brauche ihn zurück. Aber es war nichts, was sie einer Fremden hätte erklären können. Deshalb sagte sie nur: »Geh, wenn du gehen musst«, und lauschte in die Stille des Hauses. Aus einem der Räume vernahm Ylva die Stimmen der Nachzehrer: Roland, Maria und Adrián. Gut. Sie musste mit ihnen
Weitere Kostenlose Bücher