Hexenseelen - Roman
einen denke ich nicht, dass Conrad eine Gelegenheit
erhält, einen Metamorph anzufallen. Und zum anderen - wer weiß schon, wer dann diese Vision hat. Falls überhaupt.«
Ylva hielt inne. Es war, als hätte jemand - der Dämon! - ihr einen Stoß versetzt. Die Ratte!
»Die Ratte?«, stammelte sie und versuchte zu begreifen, was das zu bedeuten hatte, wie ihr Seelentier ins Bild passen sollte. »Die Ratte …«
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Roland.
»Natürlich, die Ratte!«, keuchte Ylva. »Sie war bei ihm. Vielleicht ist sie das immer noch. Wenn ich mit ihr verschmelze, kann ich herausfinden, wo Conrad festgehalten wird.«
Stumm fügte sie hinzu: Danke! Mit aller Inbrunst, zu der sie noch fähig war. Doch der Dämon antwortete nicht. Stattdessen meldete sich ihr Gewissen: Hast du nicht beteuert, die Fellnase wäre dein Freund? Hast du nicht geschworen, ihn nicht auf diese Weise auszunutzen? Und jetzt bist du bereit, seinen Geist zu brechen, ihn dir zu unterjochen …
Maria räusperte sich. »Ich weiß nicht, ich traue dem Braten nicht. Wie hoch stehen die Chancen, dass die Ratte wirklich noch bei ihm ist? Ein Seelentier und ein Nachzehrer - ich bitte euch! Und was ist mit dem Dämon, der dann in dem seelenlosen Körper bleibt und ihn womöglich übernimmt? Mal ehrlich, wir haben schon genug Probleme. Und … warum sollten wir überhaupt einem Metamorph so vertrauen? Wer versichert uns, dass es keine Falle ist?«
»Niemand«, antwortete Ylva und suchte in ihrem Inneren nach dem Dämon. Hast du mich darauf gebracht, damit du meinen Körper vollends übernehmen kannst? Damit ich vielleicht gar nicht mehr zurückkann?
Kein Hauch von einem fremden Willen. Das Ding hielt sich versteckt. Sie seufzte. Was sollte sie bloß tun? War es wirklich die einzige Möglichkeit, Conrad zu finden? Rechtfertigte seine Rettung die Gewalt gegen ihren kleinen Freund? Und was, wenn es für sie keinen Weg zurück in den eigenen Körper gäbe?
»Conrad hat ihr vertraut«, sagte Adrián. »Mir reicht das als Argument aus.«
»Mir ebenfalls«, bestätigte Roland und stellte sich neben Ylva.
»Nun gut«, willigte Maria ein. »Dann könnt ihr das meinetwegen versuchen. Ich dagegen … ich werde sehen, ob ich mir einen aus den Reihen des Messias schnappen und ihn ausquetschen kann. Vielleicht habe ich Glück.« Sie schaute Ylva an. »Danke.«
»Danke? Wofür?«
»Dass du uns Hoffnung und Mut schenkst. Wir werden kämpfen. Für Conrad.«
Kapitel 20
S tella ging auf keinen Friedhof, um nach einem Grabstein zu sehen, den es nicht gab. Sie suchte keine Plätze auf, die ihr und Nele etwas bedeutet hatten, um in dem ruhelosen Dasein etwas Frieden zu finden. Wenn die Last der Schuld unerträglich wurde, wenn sie nicht anders konnte, als jeden Gedanken ihrer kleinen Schwester zu widmen, dann fand sie sich irgendwann im Stadtpark wieder, auf den Stufen zum Planetarium. Stundenlang verharrte sie dort und starrte die Allee entlang, die bis ins Unendliche zu führen schien. Tagsüber wuselten Menschen um sie herum: Läufer, Spaziergänger, Hundehalter und Eltern mit ihren Kids. Manchmal ganze Schulklassen, unerträglich laut und hibbelig, die - einige mehr, andere weniger - darauf brannten, durch die Pforten zu schreiten und die Geheimnisse des Universums zu erkunden. Im Sommer war diese Menschenbrut kaum auszuhalten. Jetzt, da es langsam auf den Winter zuging, kamen weniger von ihnen hierher.
Nachts beleuchteten Strahler den imposanten Bau des Planetariums und ließen ihn mit seinen monumentalen Säulen gewaltig und geheimnisvoll erscheinen, manchmal sogar bedrohlich. Doch inzwischen sah Stella in
ihm einen Freund, stellte ihn sich wie einen Riesen vor, der eine Kochmütze aufgesetzt hatte. Wenn sie lange genug auf seinen Stufen verharrte, glaubte sie, der Riese würde sie in seinem Schoß wiegen.
Nachts mochte Stella es hier am liebsten, ohne zu wissen, was sie hierherzog. Denn weder sie noch Nele hatten zu ihren Lebzeiten irgendein Interesse an Sternen und am Weltall gezeigt. Stella zählte nicht mehr mit, wie oft sie auf diesen Stufen gesessen hatte, ohne jemals die Schwelle des Planetariums zu überqueren.
Auch heute war sie hierhergekommen. Nein, eher hierhergeflüchtet, weil sich die Gedanken an ihre kleine Schwester, den eigenen Tod und die Qualen danach so lebendig, so schmerzhaft und so durchdringend in ihr Hirn bohrten, dass sie es nicht länger ertragen konnte. Sie wusste, was diesen Zustand ausgelöst hatte, genauso wie sie
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