Hexenseelen - Roman
Andererseits
wollte sie bleiben, bei Conrad, und wenn es ihr Tod sein sollte, dann würde ihr letzter Atemzug ihm gehören.
Rolands Fluchen, als er von vier Gestalten attackiert wurde, verleitete Ylva dazu, ihm zu Hilfe zu eilen. Mit Linnea in den Armen, waren seine Verteidigungsmöglichkeiten mehr als eingeschränkt. So war es Ylva, die ihm den Weg zum Transporter freikämpfte. Als sie die Tür aufmachte, sah sie Alba unter dem Armaturenbrett kauern.
»Was ist hier los?«, stammelte die junge Frau und umklammerte eine Pistole mit zitternden Händen.
Niemand antwortete ihr, vermutlich, weil sie auch keine Antwort brauchte. Was ringsherum geschah, war mehr als eindeutig.
Irgendwo ertönte eine Sirene. In der Dunkelheit blinkte ein Blaulicht. Wenige Sekunden später schoss ein Polizeiauto an ihnen vorbei und bremste ganz in der Nähe.
»Gott sei Dank«, flüsterte Roland und legte Linnea hinten im Transporter ab. »Vielleicht verscheucht das die Meute und wird Conrad retten.«
Doch die Angreifer machten keinen Halt vor den Gesetzeshütern und gingen unvermittelt auf die Beamten los. Zwei der Gestalten schlugen auf das Auto ein, bald hasteten ihnen weitere Komplizen zu Hilfe. Voller Wut bearbeiteten sie die Scheiben und das Blech, zerschmetterten die Scheinwerfer und stachen mit Messern auf die Reifen ein. Wie Ameisen um die Beute scharten sie sich um das Auto, kletterten auf das Dach, die Motorhaube und den Kofferraum.
Roland schüttelte nur fassungslos den Kopf. Als er in die Fahrerkabine einsteigen wollte, tauchte ein Jugendlicher mit einem Schlagstock vor ihm auf. Mühelos wich Roland dem Hieb aus. In derselben Sekunde schnellte aus seiner Handfläche das Jo-Jo und traf den Gegner mitten an der Stirn. Der Kerl lag schon am Boden, als Roland mit dem Fuß ausholte. Ylva hörte die Knochen splittern, fühlte sich aber zu Mitleid oder Hass außerstande. Alle ihre Empfindungen waren abgestumpft, taub. Nicht einmal bei dem Gedanken an ihre Pflichten gegenüber der Königin regte sich etwas in ihr. Ohne große Verwunderung stellte sie fest, wie egal es ihr plötzlich geworden war, ob Linnea noch lebte.
Roland schlüpfte in die Kabine, startete den Motor und fuhr an. Jemand sprang auf die Haube und hielt sich am Auto fest. Ein Nachzehrer, das spürte Ylva deutlich. Der Mann holte aus und schmetterte die Faust gegen die Scheibe. Risse liefen über das Glas. Roland trat auf das Gaspedal, beschleunigte und versuchte, den Typen abzuschütteln. Vergebens.
Beim nächsten Hieb splitterte die Scheibe. Der Mann griff nach dem Lenkrad.
»Hier!«, keuchte Alba und drückte Ylva die Pistole in die Hand. »Hab ich im Handschuhfach gefunden.«
Ylva hob die Waffe und zielte dem Widersacher mitten ins Gesicht. Ohne zu zögern, drückte sie ab. Der Knall betäubte ihre empfindlichen Ohren. Das Blut spritzte. Der Mann blieb schlaff am Auto hängen, mit dem Oberkörper in die Kabine gelehnt.
»Schnallt euch an, verdammt nochmal!«, befahl Roland, während er weiterhin auf das Gaspedal drückte.
Ylva suchte nach dem Gurt und legte ihn an. Alba tat es ihr gleich. Roland trat auf die Bremse, und der tote Körper rutschte unter das Auto. Als der Nachzehrer wieder Gas gab, holperte der Wagen über den Leichnam. Sie rasten weiter, und es gab niemanden, der sie aufzuhalten versucht hätte.
Nach einigen Minuten ohne jegliche Verfolger atmete Ylva auf. Und hielt sogleich inne. Ihre Ratte! Verdammt, wo war ihr Seelentier? Sie versuchte, sich daran zu erinnern, wo sie es zuletzt gesehen hatte. Bei Conrad. Ja, jetzt fiel es ihr ein. Auf dem Weg zum Transporter hatte sie sich noch einmal umgedreht, sah ihn kämpfen und bei ihm - den Nager.
Nein, der Fellnase ist nichts passiert, redete Ylva sich ein. Sie würde es doch spüren, stieße dem kleinen Rabauken tatsächlich etwas zu. Wie Linnea den Tod ihrer Schlange gespürt hatte.
Der Name der Königin weckte Widerwillen in ihr, Bedauern, in diesem Augenblick einen Gedanken an sie verschwendet zu haben. Zwar fühlte Ylva immer noch eine gewisse Verpflichtung ihr gegenüber, aber der Drang, den Befehlen bedingungslos Folge zu leisten, nahm ab. Wenn sie die Augen schloss, dann sah sie nicht ihre Gebieterin - wie lächerlich das Wort auf einmal klang! -, sondern Conrad, seine schmale Gestalt, von Feinden umzingelt und doch unbezwungen.
Conrad … Stumm wiederholte sie seinen Namen, immer
und immer wieder. Conrad. Wie konnte sie ihn allein lassen? Wie kam es dazu, dass sie ihn so sehr hassen,
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