Hexenseelen - Roman
manchmal Menschen mit sich brachten. Menschen, die die Villa selbstständig, ahnungslos und sogar freiwillig betraten, aber nicht mehr lebendig verließen. Ylva zählte schon längst nicht mehr mit, wie viele von ihnen an ihr vorbeigezogen waren. Sie wünschte sich, sie könnte ihre Gesichter vergessen. Aber die Toten verfolgten sie, schlichen sich aus allen Ecken an sie heran und lauerten überall: in der Stille der Villa, in der Schwärze der Nacht, im Rauschen des Windes. Du hast gewusst, was uns hier erwartet , schienen die unzähligen Münder ihr zuzuflüstern. Du hast es gewusst und es zugelassen . Für deinen Totenküsser mussten wir unser Leben lassen.
Alles hatte seinen Preis. Ylva dachte an Evelyns Worte.
Und Conrads Existenz war unglaublich teuer. Wenn sie früher die Lebensenergie als etwas Abstraktes betrachtet hatte, so bekam sie jetzt eine erschreckend konkrete Vorstellung davon. In der Konsequenz musste Roland ihr jedes Mal fast Gewalt antun, um ihr Abend für Abend die Energie einzuflößen, die sie vor dem Dämon schützen sollte.
Dann versiegte der Strom der Menschen. Auch Roland hörte auf, Ylva zu bewachen und sie vom Zimmer fernzuhalten. Aber jetzt, da sie hätte hingehen können, da … konnte sie es plötzlich nicht. Selbst fast wie ein Geist, streifte sie ruhelos durch die Villa, wie in einer Zwischenwelt gefangen. Es gab keinen Weg zurück, aber sie hatte Angst vor dem, was sie nun und künftig erwarten würde.
Auch die Nachzehrer schienen in einem ähnlichen Zustand zu verweilen. Einmal belauschte sie Adrián und Maria. Maria weinte.
»Wir sind verloren«, stammelte die Lady fast so, wie Alba damals das Kali-Mantra in einem eintönigen Singsang immer wieder gemurmelt hatte.
Adrián hielt sie wie ein kleines Mädchen auf seinem Schoß und strich ihr über den Kopf. »Wir haben Conrad zurück, wir …«
»Ja, wir haben Conrad zurück, aber unseren Anführer haben wir verloren. Er wird nie mehr so sein wie früher. Posttraumatische Belastungsstörung, so nennen es die Experten.«
»Conrad ist stark. Er rappelt sich wieder auf.«
»Nein. Denn warum macht er keinen Neuanfang? Er verschließt sich vor uns in seinem Zimmer, er … er hat schon aufgegeben. Der Messias wusste genau, was er ihm antun musste, um ihn zu brechen. Er wollte ihn nicht töten, er wollte uns nur seine Macht vorführen.«
»Wo ist bloß Euer Vertrauen geblieben, Gran Princesa ?«
»Wem soll ich vertrauen? Weißt du, von wem ich die Infos über die Lagerhalle hatte? Von Svenja! Ja, von unserer Svenja, die sich, wie ich erfahren musste, schon längst auf die Seite dieses Messias geschlagen hatte und nur bei uns geblieben war, um den Clan auszuspionieren. Vertrauen! Sag, wem soll ich vertrauen, wenn ich nicht einmal mir selbst vertrauen kann? Denn manchmal denke ich: Hey, dieser Erlöser hat doch gar nicht so Unrecht mit seinen Forderungen. Warum sollen wir uns noch länger vor der Menschenbrut verstecken?«
»Ihr seid zu aufgewühlt. Was Conrad widerfahren ist, ist unumstritten schrecklich. Aber wir haben auch schon Schlimmeres überstanden.«
Mit einem Mal hörte sie auf zu weinen. Sogar ihre Stimme zitterte nicht mehr. »Nein. Haben wir nicht. Es ist die erste richtige Probe für den Clan, und wir haben sie nicht bestanden. Dieser Krieg, dieser Kampf gegen den Messias und Oya, das ist alles so hoffnungslos, merkst du das nicht? Wie David gegen Goliath.«
Ylva hörte Adrián nervös auflachen. »David hat doch mit seiner Schleuder gewonnen.«
»Aber wir stecken anscheinend in der Version, in der ihm kurz zuvor beide Arme gebrochen wurden. Im jetzigen
Zustand würde unser David die Schleuder nicht einmal heben. Vom Zielen rede ich erst gar nicht.«
Ylva schloss die Augen. Posttraumatische Belastungsstörung - was bedeutete das?
Du musst etwas tun , pochte ihr Herz. Wenn du nichts tust, hörst du auf zu existieren. Und mit dir all die anderen. Aber vor allem Conrad.
Etwas zu tun - noch nie war ihr das so schwergefallen. Noch nie hatten sich ihre Beine so geweigert, sie zu tragen, wie jetzt, als Ylva zu Conrads Tür schlich. Den Arm, der Tonnen zu wiegen schien, hob. Und anklopfte.
Sie fürchtete sich vor dem »Herein!«. Doch es kam nicht. Sie hörte seinen Atem. Sie hörte, wie er ein paar unsichere Schritte in ihre Richtung machte und stolperte, wie er nach dem Türgriff tastete, jedoch ohne zu öffnen.
Ylva holte tief Luft - und ließ sie entweichen. Sie startete einen neuen Versuch, rang mit sich selbst,
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