Hexenseelen - Roman
um Conrad stand.
In Rolands Gesicht suchte sie nach einem Funken Hoffnung. Die kleinste Geste, die winzigste Regung in seiner Mimik oder in seinem Blick hätten genügt, um ihre Zuversicht zu wecken. Aber er bekam nichts außer einem tiefen Seufzer zustande. »Gut, ich gehe hin und erkundige mich, wenn du mir versprichst, hierzubleiben und mir auf keinen Fall zu folgen. Er ist stark verletzt, und in diesem Zustand ist ein Nachzehrer unberechenbar und äußerst gefährlich. Haben wir uns verstanden?«
Ylva starrte ihn an, als wäre sie erneut in ihrem Alptraum gefangen und würde im offenen Meer ertrinken. Rolands Gerede umfloss sie wie eine starke Strömung, zerrte sie hin und her, machte ihr Angst und drohte, sie in die Tiefe zu reißen.
»Ylva, hast du gehört, was ich dir gesagt habe?«
Sie nickte. So benommen, wie sie sich fühlte, so geistesabwesend, wie sie in diesem Moment aussehen musste, hätte Roland ihr niemals glauben dürfen.
Aber offensichtlich hielt auch er es nicht länger aus, wollte Gewissheit. »Ich bin gleich zurück. Bleib hier!«
Ylva folgte ihm. Nicht bis ins Zimmer, nur bis zur Galerie, und blieb vor dem Korridor zum rechten Flügel der Villa stehen.
Sie beobachtete Roland, der gerade angeklopft hatte. »Ich bin’s.«
Das Schloss klickte, und er wurde hereingelassen, dann sperrte jemand hinter ihm hastig ab.
»Es ist alles meinetwegen, oder?«, erklang eine weinerliche Stimme von irgendwoher. Ylva drehte den Kopf und erblickte Linnea. Das verfilzte Haar hing ihr ins Gesicht, sie trug noch immer die zerrissene Kleidung und machte keine Anstalten, ihre Blöße zu bedecken. Ihre blinden Augen flackerten verstört, mal klärte sich ihr Blick, mal war er verschleiert, und etwas Sorgloses schlich sich auf ihr Gesicht, bis die Realität und die Trauer sie wieder einholten. »Wenn ich mich Oya nicht hingegeben hätte … wenn ich … Ich … wollte es nicht.«
Ylva wandte sich ab. Um diese Frau zu hassen, fehlte ihr schlichtweg die Kraft. Ihre Ohren zuckten, als sie angestrengt lauschte, um mitzubekommen, was in dem Zimmer vor sich ging.
»Wie sieht es aus?«, erkundigte sich Roland erst jetzt, als hätte er sich davor gefürchtet, diese Frage zu stellen. »Ist er noch …«
»Nein«, erwiderte Maria monoton, jeder Gefühlsregung beraubt. Ylva musste ihr Gehör bis aufs Äußerste
strapazieren, um sie zu verstehen. »Sein Kreislauf ist während der Fahrt kollabiert. Keine Lebenszeichen.«
»Wenn die Leichenstarre noch nicht eingesetzt hat, dann besteht doch noch eine Chance, ihn zurückzuholen, oder? Wenn wir ihm genug Energie zur Verfügung stellen …«
»Ich bin mir nicht sicher, ob wir ihm damit einen Gefallen tun würden«, antwortete Maria.
Ylva vernahm, wie eine Decke zurückgeschlagen wurde. Beinahe gleichzeitig keuchte Roland auf: »Oh mein Gott.«
Ylva wusste nicht, was er gesehen hatte - sehen musste. Aber das Entsetzen in seinem Ton veranlasste sie dazu, ebenfalls scharf die Luft einzuziehen und sich eine Hand vor den Mund zu schlagen. Ihre Augen begannen zu brennen, während ihr Verstand das schaurige Bild der blutverkrusteten Hand mit nur vier Fingern heraufbeschwor.
»Eben. Adrián und ich kommen im Moment nicht auf einen Nenner. Er ist der Meinung, wir sollten Conrad zurückholen. Aber damit würden wir ihn nur noch mehr quälen, zumal er sicherlich den Neuanfang wählen wird, sobald er wieder selbst Entscheidungen treffen kann.«
»Mag sein«, mischte sich Adrián ein. Er klang zermürbt. »Aber das ist seine Entscheidung. Du kennst unsere Richtlinien. Solange auch nur eine Chance besteht, lassen wir keinen in den Sarg wandern.«
»Diese Richtlinien wurden verabschiedet, weil man nicht immer weiß, ob der betreffende Nachzehrer vorgesorgt
hat«, hielt Maria ihm entgegen. »Aber Conrad? Er ist doch nicht erst seit gestern untot.«
»Das spielt keine Rolle. Die Entscheidung für den Neuanfang ist jedem selbst überlassen. Und solange Conrad nicht in der Lage ist, sie zu treffen, ist es unsere Pflicht, alles zu tun, um ihn zurückzuholen.«
Roland schluckte vernehmlich. »Adrián hat Recht. Wir dürfen das nicht über seinen Kopf hinweg entscheiden.«
Einige Sekunden lang sagte keiner mehr etwas.
»Wie ihr meint«, gab Maria schließlich nach. »Dann wird es so sein.«
In den nächsten Tagen blieb die Tür verschlossen, und Ylva wurde nicht einmal in die Nähe des Zimmers gelassen. Tatenlos musste sie beobachten, wie die Nachzehrer rein- und rausgingen und
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