Hexenseelen - Roman
den Tunnel darunter zu gelangen. Anderen diese Schwäche zu zeigen, konnte sie sich nicht erlauben. Der Vergangenheit nachzuweinen - noch viel weniger.
Zwei parallele Gänge führten ins Innere des runden Bunkers, der sich direkt unterhalb der Jugendherberge über drei Stockwerke erstreckte. Stella holte die Taschenlampe aus der Jacke, knipste sie an und leuchtete umher. Sie befand sich nicht zum ersten Mal hier, musste sich aber immer ein wenig sammeln, bevor sie in die unterirdische Anlage vordrang. Deshalb tat sie so, als würde sie die Umgebung genauer in Augenschein nehmen.
Ein großer Reichsadler sah vom Eingang auf Stella herab. Der Strahl der Lampe zuckte über die grauen Wände, beleuchtete den Schriftzug »Des Führers Tun ist immer recht!« und ein Hakenkreuz mit Eichenlaub. Die modrige Luft füllte ihre Lunge. Die Decke und die Wände schienen ein Stück näher zu rücken, sobald das Licht
sie streifte. Mit beiden Händen umklammerte Stella die Taschenlampe, um das Zittern, das tief in ihren Gliedern wurzelte, zu bezwingen.
»Scheiße«, flüsterte sie und nötigte sich, einen Schritt vorwärts zu machen. »Scheiße, Scheiße, Scheiße!«
Steinchen und Scherben knirschten unter ihren Sohlen, mal stieß sie eine Flasche an, mal eine Dose - die Überbleibsel der vergangenen Partys. Als sie um eine Ecke bog, scheuchte sie ein paar Fledermäuse auf, die sich durch die speziell für sie eingelassenen Schlitze zum Überwintern in den Bunker verkrochen hatten. Sie biss die Zähne zusammen, während die Tiere dicht an ihrem Kopf vorbeiflatterten. Immerhin gelang es ihr, nicht zu kreischen. Stella wartete, bis ihr Herz aufgehört hatte, wie verrückt zu pochen. Verflucht. Am liebsten hätte sie sich geohrfeigt. Sie konnte, ohne mit der Wimper zu zucken, einen Menschen bei lebendigem Leibe zerteilen, aber enge Räume und eine Handvoll Mäuse - egal, ob geflügelte oder nicht - versetzten sie in Panik.
»Panik! Quatsch. Die sind einfach nur eklig«, beteuerte Stella sich selbst. »Da bin ich nicht die Einzige, die so empfindet.«
Endlich beruhigte sie sich genug, um weiterzugehen. Am Ende des Tunnels sah Stella Licht und hörte Stimmen. Sie wischte sich über das Gesicht, zog ihre Kleidung zurecht und hoffte, die innerliche Beklemmung gut genug vor den anderen verbergen zu können.
In einem Vorraum wachten drei Nachzehrer. Sofern man ihr Tun als Wachen bezeichnen konnte. Sie hatten
sich über eine Holzplatte gebeugt und spielten Mikado mit Streichhölzern. Dieser Anblick blies die letzten Funken der Angst und Niedergeschlagenheit aus Stella heraus.
»Was soll das?«, zischte sie, sprang auf die drei zu und fegte die Platte beiseite. »Solltet ihr nicht den Gefangenen bewachen?«
Zwei murrten unisono etwas Unverständliches, der dritte Mann hob die Schultern. »Tun wir doch. Wo kann er schon hin? Timo und Nick sind an der Tür, Svenja ist drin, um mit ihm … zu reden. Also entspann dich.«
Stella spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Sie bündelte ihre Energie, packte den Mann an den Schultern und schleuderte ihn zu Boden. Noch bevor er registrierte, was mit ihm geschah, trat sie ihm mit dem Fuß ins Gesicht. Der mit einer Stahlplatte beschlagene Absatz riss sein Fleisch an der linken Seite bis zum Wangenknochen auf. Der Mann heulte auf, während sein Blut in den Staub sickerte.
»Untersteh dich!«, fauchte sie den Bezwungenen an und wandte sich den anderen beiden zu. »Was hat der Gefangene bisher berichtet?«
»Nichts, was den Messias interessieren würde«, sagte der eine. Keiner von den beiden machte Anstalten, dem Verletzten zu Hilfe zu eilen. »Svenja ist es noch nicht gelungen, seine mentale Barriere zu brechen.«
Was für ein Haufen Nichtsnutze! Stella biss sich auf die Unterlippe. Der Erfolg in dieser Angelegenheit war unglaublich wichtig. Eine Art Probe, die sie bestehen
musste. Der Messias hatte ihr die volle Entscheidungsgewalt in dieser Angelegenheit übertragen. Dafür forderte er Ergebnisse.
Stella holte ein Taschentuch aus ihrer Jacke hervor und warf es dem Verletzten hin, der sich auf dem Boden krümmte und eine Hand auf die Wunde drückte, um die Blutung zu stillen.
»Mach dich sauber und hör auf zu heulen. Betrachte es als Unterricht im Fach Benehmen.«
Sie marschierte davon. Timo und Nick standen vor einer mit Rost behafteten Stahltür und hätten wunderbare Wächter des Buckingham-Palastes abgegeben: Sie nahmen ihre Aufgabe ernst, sahen dekorativ aus, waren aber auch
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