Hexenseelen - Roman
jetzt merkte Conrad, wie er Stück für Stück etwas von sich verlor. Ja, das sollte ihn definitiv beunruhigen, tat es aber nicht, weil es im Grunde nur die Leere war, die zurückwich.
»Keinesfalls«, erwiderte er trocken, immer noch mit diesem automatischen Lächeln, das ihm plötzlich selbst zuwider war. »Ich habe selbstverständlich zu meinem Efeu gesprochen. Er mag es nicht, wenn ich ihn bedränge.« Wie immer suchte er nach einer Möglichkeit, das Gespräch von seiner eigenen Person abzulenken. Distanz zu wahren. Früher konnte er bloß Berührungen nicht leiden, mochte keine warme Haut auf der seinen spüren. Später fiel es ihm schwer, Fremde in seiner Nähe zu akzeptieren. Inzwischen wies er die ganze Welt ab, ohne sich dabei auch nur ein wenig wohler zu fühlen. Vielleicht, weil er selbst es war, den er am meisten verabscheute und dessen Anwesenheit er nicht ertragen konnte. »Ist es Ihnen gelungen, bei Ihren Recherchen etwas herauszufinden?«
»Allerdings.« Der Nachzehrer kam zum Tresen und schob die Sachen, die darauf lagen, beiseite. Ein Stapel von Anzuchttöpfen aus Plastik und Einstecketiketten fiel zu Boden, ohne dass er es weiter beachtete. Schwungvoll klappte er den Laptop auf und schaltete ihn ein. »Und die Ergebnisse sind alarmierend. Sie haben es sicherlich bereits in den Nachrichten gehört: Die Gewalttätigkeit der Banden wächst, die Kriminalität nimmt zu, die Angriffe gegen die Polizei häufen sich. Vor allem aber fällt der Anstieg der - auf den ersten Blick - sinnlosen Brutalität und Zerstörung auf. Beispielsweise die Reihe der Brandanschläge auf Autos in und um Hamburg. Es sind viele in der letzten Zeit und ohne ein deutliches Motiv.«
Conrad hob die Sachen auf und verstaute sie im Regal. Wenn er sich im Laden umsah, hatte alles seine Ordnung. Als könnte man das ganze Leben in Schubladen verstecken. »Was aber hat das mit diesem Messias zu tun? Sie sollten doch mehr über seine Absichten in Erfahrung bringen.«
Rivas stützte sich am Tresen ab und trommelte mit den Fingern auf die Oberfläche, während das Betriebssystem hochfuhr. »Warten Sie ab. Die Krawalle während des Schanzenfestes dieses Jahr sind Ihnen noch in Erinnerung?«
»Mein Interesse an dieser Veranstaltung hielt sich schon immer in Grenzen. Und Krawalle gibt es dort jedes Jahr, wenn ich den Medien Glauben schenken darf.«
»Sicherlich. Aber noch nie so stark wie dieses Mal. Es war eine richtige Straßenschlacht.« Er beugte sich über die Tastatur und startete ein Video, das auf dem Desktop gespeichert war. Conrad trat näher und sah ihm über die Schulter.
Die Kamera zeigte eine wütende Menge, fliegende Flaschen und brennende Autos. Die Polizisten mühten sich, die Menschenmassen mit Wasserwerfern auseinanderzutreiben, während die Vermummten alle und jeden angriffen, die ihnen im Weg standen. Glaubten die Ordnungshüter, an einer Front einen Rückzug erreicht zu haben, fielen die Randalierenden an einer anderen über die Uniformierten her.
»Jetzt wird es spannend«, verkündete Rivas und klickte auf »Pause«. Mit einem Finger zeigte er auf eine Gestalt,
die die anderen noch mehr aufzuhetzen schien. »Da. Sehen Sie? Die kennen wir doch, oder?«
Conrad starrte den Monitor an. Was geschah bloß mit dieser Welt? »Stella.«
»Genau. Sie taucht auch in einigen anderen Videos auf. Und nicht nur sie. Ich habe mehrere unserer Art erkannt, von denen wir wissen, dass sie sich dem sogenannten Messias angeschlossen haben. Was wir hier gesehen haben, wurde von Nachzehrern angestiftet. Sie feuern die Massen an, bleiben aber bisher selbst im Hintergrund.«
»Das würde bedeuten, dass der Messias tatsächlich Menschen rekrutiert. Ich habe mich also nicht getäuscht.« Conrad zog die Augenbrauen zusammen und rieb sich über die Falte dazwischen. »Ein cleverer Zug.«
»Was? Ich verstehe das nicht. Wer würde sich denn mit Sterblichen abgeben? Die sind schwach. Unnütz, von der Lebensenergie mal abgesehen.«
»Wenn man den Einzelnen betrachtet - gewiss. Aber in solchen Mengen würden sie uns überrennen. Um die Welt zu regieren, gibt es nämlich zu wenige von unserer Sorte. Glücklicherweise.« Conrad blickte auf die Orchideen, die eine Ziersäule schmückten. »Jetzt wird mir einiges klar. Oya unterstützt diesen selbst ernannten Erlöser sicherlich nicht aus Herzensgüte. Linnea hat erzählt, die Mächtige will die Welt umformen, den alten Göttern zu ihrer einstigen Pracht verhelfen. Das kann sie nur, wenn sie
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