Hexenseelen - Roman
hatte sie schon so oft gerettet, und sie dankte ihm dafür, indem sie weglief und ihn zurückließ.
Geh doch hin , erhob sich ein sanftes Flüstern in ihrem Kopf. Hilf ihm!
Schon setzte sie einen Schritt in seine Richtung, als sie
an der Schulter herumgerissen wurde. Erschrocken blickte sie in Rolands Gesicht.
»Bist du gänzlich übergeschnappt? Er wird dich umbringen. Fort mit dir!« Er schubste sie zur Treppe und stellte sich zwischen sie und Conrad, der, obschon er sich innerlich dagegen zu wehren schien, wieder auf die Beine kam.
Ylva stolperte die Stufen hinunter, zerrissen von widersprüchlichen Gefühlen.
Du feiges Ding!
Ja, renn doch, lass ihn zurück!
Sie musste sich an der nächsten Wand festhalten, so sehr zitterten ihre Beine. Das Flüstern schwoll in ihrem Kopf an. Der Dämon regte sich, bedrängte sie, zerrte an ihrer Seele. Aus der Wohnung erschallten Kampfgeräusche. Conrads Knurren, das kaum einem denkenden, fühlenden Wesen gehören konnte. Rolands schmerzerfüllter Aufschrei. Was passierte da bloß? Sollte sie nicht lieber nachsehen?
In diesem Augenblick spürte sie einen Griff um ihren Oberarm. »Komm schnell, ich bringe dich hier weg«, ertönte eine rauchige Stimme an ihrem Ohr.
Ylva sah auf und registrierte Micaelas Gesicht. »Habe ich nicht gesagt, man darf den Totenküssern nicht trauen? Ein Glück, dass ich in der Nähe war. Schnell! Wir müssen abhauen, solange es noch nicht zu spät ist.«
Ylva ließ sich auf die Straße führen, zu verwirrt, um eigenständig zu denken. Alles, was um sie herum geschah, wirkte so verzerrt. Ylva wagte es nicht, den Blick
vom Boden zu heben, aus Angst, allein das würde ausreichen, um die Realität splittern zu lassen. Micaelas Griff tat weh, aber bei weitem nicht so wie die Furcht vor dem, was sich hinter ihrem Rücken, in der Wohnung, womöglich abspielte. Nicht so wie die Erinnerungen an das Monster, in das Conrad sich verwandelt hatte. Sie bezweifelte, diesen Anblick jemals vergessen zu können.
Was hast du vor? , wollte Ylva wispern, aber erst nach mehreren Anläufen gelang es ihr, ihrer Stimme Kraft zu geben und die Frage tatsächlich zu formulieren.
Die Jägerin zerrte sie weiter, machte riesige Schritte, was es für Ylva umso schwerer machte, neben ihr herzutrotten. »Dich zu retten, du dummes Kind. Oder meinst du, Conrad wollte nur mit dir spielen? Du musst hier weg, so weit wie möglich, damit er dich nicht in die Finger bekommt.«
»Aber Linnea …«
»Vergiss Linnea, die kann schon lange nicht mehr klar denken!«
Sie erreichten einen kleinen Wagen, der aussah, als kauerte ein lebendiges Wesen neben dem Bürgersteig. Matte himmelblaue Farbe zierte das Blech, an einigen Stellen waren Defekte sichtbar mit einem Pinsel übermalt worden. An den Kanten hatte das Metall Rost angesetzt. Das Auto ächzte und quietschte, als Micaela an der Klinke zerrte und die Tür aufriss.
»Steig ein!«
Ylva starrte auf die verblichenen Stoffbezüge mit
Blümchen, beäugte misstrauisch die Katze, die von der Rückbank wachsam zu ihr hinüberblinzelte. »Ich glaube, ich brauche nicht mehr gerettet zu werden. Conrad ist fort, ich spüre ihn nicht mehr. Es wäre besser, wenn ich jetzt gehe.«
»Ich habe echt keine Zeit für diesen Kinderkram, du steigst sofort ein.« Micaela stieß sie zum Wagen, stopfte sie buchstäblich auf den Beifahrersitz und knallte die Tür zu. Wenige Sekunden später schob sie sich hinter das Lenkrad. Das Auto war ihr sichtlich zu klein, wie ein Kleidungsstück, aus dem sie herausgewachsen war. Ihre Knie berührten fast das Armaturenbrett. Als sie zu Ylva schaute, wurden ihre Züge weicher. »Hab keine Angst, es ist alles in Ordnung. Hör zu. Du wolltest doch etwas über dich erfahren, oder? Ich kann dich zu deinem Vater bringen, ich habe ihn gefunden.«
Ylva drückte sich die Hand auf den Bauch. Sogar durch die Kleidung glaubte sie, die Narbe ertasten zu können. »Zu meinem Vater? Er hat versucht, mich umzubringen.« Auf einmal wusste sie nicht, ob es klug war, in der Vergangenheit zu graben. Andererseits: Wer konnte ihr alles erzählen, wenn nicht der Mann, den sie früher Paps genannt hatte? Wenn sie jetzt diese Gelegenheit verstreichen ließ, würde sie niemals begreifen, welche Rolle sie in dem ganzen Durcheinander spielte.
»Nein«, erwiderte Micaela unendlich sanft, »er hat dich geliebt. Du warst sein Ein und Alles.«
»Du kennst meinen Vater? War er auch ein Metamorph?«
»Er ist ein Anwärter geblieben, da er sein
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