Hexenseelen - Roman
Geruch wahrnahm, zeichnete ihr die Umgebung bis ins kleinste Detail. Ihr Tastsinn bestätigte, dass sie hier richtig war.
Ylva ging weiter, und es war, als würde sich nicht ihr Kopf, sondern ihr gesamter Körper an die Route erinnern. Als hätten sich ihre Muskeln jede Kurve gemerkt und beförderten sie weiter, ohne ihr Zutun. Die Stadt war vielleicht ein riesiges Labyrinth, aber ihre Sinne führten sie sicher zum Ziel. In diesem Moment war sie mehr Ratte denn je, und Ratten fanden immer den Weg zum Speck.
Ylva wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Die Zeit zählte sie in Herzschlägen und Schritten, hörte bei Hundert auf, weil sie nicht weiterwusste, und begann jedes Mal von vorn. Ihre Beine taten weh. Ihr Arm, der immer nach einer Hauswand suchte, fühlte sich bleischwer an.
Alba stöhnte, während sie hinter ihr herstolperte, blieb aber tapfer. Nur ein Mal hatte sie gefragt, ob Ylva denn wisse, was sie da tue. Ylva hatte wahrheitsgemäß verneint. So fragte Alba nichts mehr, ging trotzdem weiter. Und stöhnte.
Auch Ylva konnte sich kaum noch vorwärtsschleppen. Die neuen Schuhe hatten Blasen an ihren Füßen gerieben und brachten bei jedem Schritt Qualen mit sich. Überhaupt waren Schuhe das Schlimmste und Dämlichste, was ein lebendes Wesen seinen Füßen antun konnte.
Die Müdigkeit drückte sie nieder. Der Hunger brodelte in ihrem leeren Magen. Wo war bloß Conrad mit seinen Apfelstücken?
Weiter, immer weiter. Sie erlaubte sich keine Pause, aus Angst, diesen Trieb zu verlieren. Bald funktionierte Ylva nur noch automatisch. Sie dachte an nichts mehr, und sie spürte keine Schmerzen, als würde ihr ganzes Wesen bloß aus stumpfen Bewegungen bestehen, die ihr ermatteter Körper ausführte. Die ganze Zeit über hielt sie die Lider geschlossen; so wusste sie nicht, ob womöglich bereits der Morgen graute oder die Nacht noch die Stadt in ihrem Schoß wiegte.
»Ylva, warte, was machst du da?« Albas Ruf, der von irgendwo unten kam, traf Ylva so unvorbereitet, dass sie die Augen aufriss. Und sogleich nach Luft schnappte.
Sie klammerte sich an eine Regenrinne, in etwa sieben Metern Höhe, einen Fuß gegen ein Fenstersims gestemmt. Anscheinend war sie gerade dabei, eine Hauswand
hochzuklettern. Es war ein vierstöckiges Gebäude aus rotbraunem Backstein mit schmutzig weißen Balkonen, wobei fast jeden eine Satellitenschüssel zierte. Links von ihr erstreckte sich ein hoher Plattenbau in Stufenform, als hätte ein Kind Bauklötze verschiedener Größe aneinandergereiht. Die Garagen davor und der Parkplatz mit unzähligen Autos versanken im Dunkeln.
Ylva selbst baumelte auf der Höhe des dritten Stockwerkes. Warum? Was wollte sie dort? Sie hatte keine Ahnung. Aber das, was sie tat, war richtig. Denn nun witterte sie Finns Geruch, der plötzlich sehr intensiv zu ihr wehte.
Willst du hinunterfallen und dir den Hals brechen? , rauschte es durch ihre Adern. Mach weiter so, und du bist tot, ganz sicher!
»Bist du dir sicher, dass wir hier richtig sind?«, hallte Albas Stimme zu ihr, diesmal um einiges nervöser. »Dies ist keine allzu … sichere … Gegend, wenn mein Gefühl mich nicht trügt.«
Ylva zwang sich, die Lider zuzumachen und sich auf ihren Instinkt zu verlassen. Wie in Trance kletterte sie hoch, bis sie an ein Fenster gelangte, aus dem Finns Duft strömte. Erst dort sah sie auf.
Sie befand sich weit über dem Boden, verspürte allerdings keinerlei Höhenangst. Es machte ihr sogar Spaß, von hier oben die Umgebung zu beobachten und Alba, die unten auf und ab lief und verzagt die Hände knetete.
Die Fensterscheibe war zerbrochen. Damit stellte es für Ylva keine Schwierigkeit dar, in die Wohnung zu
schlüpfen, wo jeder Zentimeter der Tapete, des Fußbodens und der Möbel von Finns Geruch durchdrungen war. Endlich hockte sie in einer kleinen Küche auf einem Tisch, der dicht vor dem Fenster stand. Anscheinend hatte Finn alles in Schuss gehalten: kein schmutziges Geschirr, keine Flecken, abgesehen von ein paar angebrannten Spuren an der Backofenscheibe. Und hier und da war eine der Leisten an den Schränken abgegangen.
Ylva schaute aus dem Fenster zu Alba. »Es ist seine Wohnung. Wir sind endlich da. Komm rauf!«
»Ich kann die Wände nicht hochklettern, schon vergessen?«, kam es etwas gekränkt von unten.
Ylva kaute auf der Lippe. Das bedeutete in der Tat ein Problem. Wie konnte sie Alba helfen hierherzugelangen? Zum Glück lag die Lösung auf der Hand, und natürlich war es Alba, die den
Weitere Kostenlose Bücher