Hexenseelen - Roman
Einfall hatte: »Du musst mir die Tür öffnen und mich ins Treppenhaus lassen.«
Ylva sprang vom Tisch und ging in den nächsten Raum. Auch dieser war spartanisch eingerichtet, aber sauber: ein Sofa, ein Schrank, ein Fernseher auf einem Gestell und ein Regal, das die ganze Wand einnahm. Mehr passte hier eh nicht rein.
Im Flur musste Ylva mit dem Schloss kämpfen, bis sie die Tür aufgesperrt hatte. Die Gegensprechanlage funktionierte nicht, aber anscheinend war das Gerät nur zu Alibizwecken angebracht worden. Wie sich herausstellte, gelangte man ins Treppenhaus, auch ohne dass jemand öffnen musste. Wenige Minuten später trat Alba in die Wohnung. Sie musste sichtlich mit sich kämpfen, um in
Finns Wohnung nicht an ihn zu denken und sich darauf zu konzentrieren, weswegen sie hierhergekommen war.
Nach den Notizen mussten sie nicht lange suchen. Der Stapel lag säuberlich auf dem Regal, einige Bücher über Mythologie standen geordnet daneben. Alba holte alles zum Küchentisch und setzte sich auf den einzigen Stuhl, der zur Verfügung stand. Ylva lehnte sich an eine Wand und beobachtete die junge Frau. Denn helfen konnte sie kaum. Die Papiere waren mit vielen Zeichen versehen, die unzählige Reihen bildeten. Buchstaben. Worte. Sätze. Mit denen sie kämpfen musste, um ihren Sinn zu entschlüsseln.
Du kannst nicht lesen, Rattenmädchen . Du bist zu nichts gut!
Schon wieder musste Ylva sich schämen und hoffte, Alba würde ihre Nutzlosigkeit nicht bemerken. Ihre Hoffnung währte nicht lange.
»Hier.« Die junge Frau schob ihr einen Stapel zu. »Sieh dir diese Sachen durch, dann kommen wir schneller voran.«
Ylva schaute sich verzweifelt um, suchte nach einer passablen Ausrede, bis ihr Blick auf den Kühlschrank fiel. Ihre Rettung!
»Zuerst muss ich was essen«, gab sie brüsk zurück und riss die Tür auf.
»Oh. Gut. Gibst du mir auch etwas ab, wenn du etwas Essbares findest?«
»Mh.« Ylva durchforstete den Kühlschrank. Sie fand je eine angebrochene Packung Wurst und Käse, ein Viertel
einer vergammelten Pizza, das gleich in den Mülleimer wanderte, und einen Joghurt. Ihre Schätze brachte sie zu Alba und steckte sich direkt eine Wurst- und eine Käsescheibe in den Mund. Gierig kaute sie daran, während sich ihr Magen mit einem lauten Grummeln meldete.
Alba inspizierte die Packungen. »Iih, die sind doch schon längst abgelaufen. Iss das nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil die Sachen vielleicht schon schlecht sind. Du verdirbst dir den Magen!«
»Quatsch, die sind gut. Schmecken zwar nicht sonderlich delikat, aber machen satt.«
»Delikat? Woher kennst du eigentlich solche Wörter?«
Ylva zuckte mit den Schultern und dachte an Marias Bericht. Dämonen waren Schattenseelen und einst sogar Menschen. Nur dank dem Dämon hatte sie ihren Verstand wiedererlangt. Vielleicht auch einige Ausdrücke? Der Bissen blieb ihr in der Kehle stecken. Wie sehr war sie inzwischen Dämon? Und was war von ihr, Ylva, noch übriggeblieben?
Alba redete weiter: »Aber du hast sicherlich eine feinere Nase als normale Menschen. Das vergesse ich immer.«
Ylva zwang sich, die Zweifel nicht an sich heranzulassen. »Ich kann dir sogar die einzelnen Zutaten nennen. Allerdings … ich weiß nicht, ob du das wirklich so genau wissen möchtest.«
Sie aß, während ihre Freundin weiter die Notizen durchackerte. Endlich drehte Alba das letzte Blatt um und schob den Stapel von sich.
»Nichts.« Sie ließ sich gegen die Stuhllehne fallen. Ihre Gesichtsfarbe hätte jedem Nachzehrer Konkurrenz machen können, unter ihren Augen lagen dunkle Schatten. »Kein Wort über Hexenkinder. Anscheinend wusste mein Großvater nichts von ihrer Existenz. Was wollen wir jetzt tun? Wir haben keinerlei Anhaltspunkte.«
Ylva saß neben dem Tisch auf dem Fußboden. »Warum können wir nicht Evelyn, diese Hexe, fragen? Ich meine, sie hat dir doch schon mal ein wenig darüber verraten. Warum nicht alles?«
»Im Keller war so viel los … und ehrlich gesagt, war ich so durcheinander, dass ich ihr kaum zugehört habe. Sie ist gegangen, sobald ich mit ihr den Pakt besiegelt hatte.«
»Den Pakt? Das hört sich irgendwie beunruhigend an.«
Alba winkte hastig ab und sah weg. »Mach dir keine Sorgen. Es ist nur ein gegenseitiges Versprechen. Ich … ich helfe ihr, das Hexenkind zu finden, und sie gibt mir Finn zurück.«
Etwas flüsterte Ylva zu, dass die junge Frau nicht die ganze Wahrheit sagte. Aber vielleicht war das nur der Dämon, der sie von Alba abbringen
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