Hexenseelen - Roman
erhob: Lächerlich! Hör lieber auf, diesem Mädchen falsche Hoffnungen zu machen. Sag ihr die Wahrheit, sag ihr, dass du eine miese Lügnerin bist und in Wirklichkeit nicht die geringste Ahnung hast, wo Finn wohnte.
Ylva wandte sich wieder dem Fenster zu, konnte sich jedoch nicht auf die Umgebung konzentrieren. Einige Zeit später hielt das Taxi an. Während Alba bezahlte, schaute Ylva umher. Der Tag, als sie zum ersten Mal hier war, als sie Linnea gefolgt war, lag eine Ewigkeit zurück. Sie selbst hatte sich verändert, genauso wie ihre Wahrnehmung der Welt um sie herum. Sie roch einen Fluss, lauschte dem leisen Plätschern der Wellen und wusste, dass es die Elbe war. Sie bewunderte die kleinen, an den Hang rechts von ihr gebauten Häuschen für die Gemütlichkeit,
die sie verströmten, und erkannte gläserne Fassaden anderer Bauten als modern an. Sie machte sich Gedanken um die Menschen, die hier wohnten: Ein Krieg tobt in ihren Vorgärten, und sie merken es nicht. Wie kann das sein? Sehen sie es nicht, oder wollen sie es nicht sehen? Und was wird geschehen, wenn sie gezwungen werden, es doch zu sehen? Werden sie auch dann blind bleiben, ihre Aufläufe backen, mit den Nachbarn schnacken und ihre Kinder auf der Straße spielen lassen?
»So, jetzt bin ich pleite«, verkündete Alba, als die roten Lichter des Taxis in der Dunkelheit verschwanden. »Julianes Haus liegt etwas weiter, ich habe damals bei der Elbwarte geparkt und bin dir dort begegnet. Wo möchtest du anfangen?«
»Also versuchen wir es da.«
Der späte Herbst bescherte Hamburg einen milden Abend, und so genoss Ylva den kleinen Spaziergang am Ufer entlang, während sie auf ein hohes Gebäude mit einem gläsernen Kuppeldach zusteuerten, das irgendwie einsam in die Dunkelheit ragte.
»Da oben ist ein Restaurant«, erklärte Alba, als sie vor dem Haus stehen blieben. »Aber es ist nur an vier Tagen der Woche von 15 bis 18 Uhr geöffnet.«
Nun ja, zum ausgiebigen Speisen über der Elbe hatten sie eh keine Zeit, obwohl Ylvas Magen nichts gegen ein paar Häppchen einzuwenden gehabt hätte.
»Und? Bist du bereit? Willst du wittern, wohin wir gehen müssen, oder wie funktioniert das?«
Gute Frage. Albas Vorschlag kam ihr vernünftig vor. Sie
versuchte es mit Schnuppern. Ihre Nasenspitze zuckte, Ylva drehte sich zuerst in die eine, dann in die andere Richtung, aber natürlich gelang es ihr nicht, Finns Fährte aufzunehmen. Zu lange war es bereits her, seit er das letzte Mal vielleicht hier gewesen war, zu viele Menschen hatten seine Spuren zertreten und seinen Geruch davongetragen.
»Da, auf dem Parkplatz bin ich dir begegnet, als du dir Athene, den Rotmilan, geschnappt hast. Ich wollte den Vogel fortbringen, aber du warst der Meinung, besser auf ihn aufpassen zu können.«
Mit keiner Miene zeigte Ylva, für wie hoffnungslos sie das ganze Unternehmen inzwischen hielt. Was denkst du, wie lange Alba mit dir noch Geduld haben wird? , höhnte es in ihrem Kopf. Sie presste die Lippen noch fester zusammen und überquerte den Parkplatz. Jeder Hinweis brachte sie weiter. Vielleicht würde sie sich dann erinnern, wohin sie gehen musste.
Erinnern … Sie grinste schief. Nicht gerade ihre Königsdisziplin.
So stand sie da wie auf einem Präsentierteller und hoffte auf eine Eingebung, die einfach nicht kommen wollte. Du bist zu nichts nutze, Rattenmädchen. Lass es bleiben. Geh in den Laden zurück, wo Conrad und Linnea auf dich aufpassen und Entscheidungen für dich treffen werden.
Sie schloss die Augen. Du findest nie hin. Und woher willst du überhaupt wissen, ob du in seiner Wohnung gewesen bist? Vielleicht ist es reines Wunschdenken, wie dein Hübschsein. Wie Conrads Gefühle für dich.
Ylva hielt die Lider geschlossen, wagte es nicht aufzusehen. Denn würde sie es tun, müsste sie in Albas Gesicht blicken. Dort Enttäuschung und tiefste Verachtung lesen. Sie taumelte, etwas drängte sie weiter, und sie ging davon. Ihr Arm streckte sich zur Seite, fast von allein, und berührte eine Hauswand. Mit den Fingern streifte sie darüber, dann drückte sie die ganze Handfläche dagegen. Sie machte einen Schritt an der Wand entlang, horchte in sich hinein und machte noch einen.
Mit geschlossenen Augen begann sie zu gehen, ohne zu wissen wohin, ohne das Geringste zu sehen und zu verstehen. Aber den Verstand brauchte sie dafür genauso wenig wie ihre Sehkraft. Ihr Gehör teilte ihr mit, was um sie herum geschah und dass Alba ihr folgte. Ihre Nase, die den leisesten
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