Hexenseelen - Roman
wollte. So, wie er versucht hatte, sie von der Suche nach Finns Wohnung abzuhalten.
Nein, auf irgendeinen wabernden Klumpen Dunkelheit in ihrem Inneren würde sie ganz sicher nicht hören! Selbst wenn dieser Klumpen irgendwann früher eine Menschenseele war, mit eigenen Gefühlen und Gedankengut,
von dem sie jetzt profitierte, dem sie Wörter wie »delikat« entlieh.
»Rufe sie her«, schlug Ylva vor. »Dann können wir Evelyn in Ruhe ausfragen.«
»Aber wie? Letztes Mal musste ich bloß ›Oh mein Gott‹ denken, und sie ist mir erschienen. Glaub mir, ich habe das bereits versucht, aber noch einmal kommt sie auf diese Weise nicht zu mir.«
Ylva mühte sich auf die Beine und beugte sich über die ausgebreiteten Notizen, tat so, als würde sie lesen. »Steht darüber etwas in den Unterlagen deines Großvaters?«
Alba runzelte die Stirn, und plötzlich erhellte sich ihre Miene. »Genau.« Sie sprang vom Stuhl auf und wäre beinahe mit ihrer Stirn gegen Ylvas Kopf gestoßen. Mit fahrigen Bewegungen wühlte sie in den Papieren. »Ich glaube, ich habe etwas in der Art gesehen. Warte mal.« Sie blätterte herum. »Da. Ein Gebet - oder heißt das Mantra? - in seinen Aufzeichnungen zum Thema Meditation. Meinst du, das funktioniert?« Sie hielt Ylva das Blatt unter die Nase.
»Ich weiß es nicht. Versuch es einfach. Was kann da schon schiefgehen?«
Jede Menge , erwiderte die Vernunft, der Ylva rasch den Maulkorb anlegte. Sie war schon zu weit gegangen, um noch darauf zu hören.
Alba ging in die Mitte der Küche, setzte sich auf ihre Fersen und legte das Blatt vor sich. »Keine Ahnung, wie man das ausspricht. Mal schauen.« Sie räusperte sich. »Adi Divya Adi Divya Adi Divya Jyoti Maha Kali Ma Namah
…« Sie brach ab und verdrehte die Augen. »Ach, das ist bestimmt alles total falsch und klingt irgendwie bescheuert. Findest du nicht auch?«
Ylva umging eine direkte Antwort. »Wir haben doch keine andere Idee, oder? Mach weiter. Genau so, wie dein Großvater es beschrieben hat.«
»Na gut, dann hast wenigstens du Spaß bei der ganzen Aktion.« Alba legte ihre Hände im Schoß zusammen und begann, ihren Körper sanft hin und her zu schaukeln. Die Worte klangen fremd und stockend, als wollten sie ihr nicht über die Lippen kommen. Doch nach und nach rezitierte sie flüssiger.
»Adi Divya Adi Divya
Adi Divya Jyoti Maha Kali Ma Namah
Madhu Shumbha Mahisha Mardhini
Maha Sakta Ye Namah
Brahma Vishnu Shiva Swarupa Twam Na Anyatha
Chara Charasya Palike Namo Namah Sada.«
Bald verwandelte sich ihr Gebet in einen Singsang. Ylva blickte zur Uhr und musste daran denken, wie ihr Paps sie ihr einst erklärt hatte. Schnell konnte sie die Uhrzeit immer noch nicht ablesen, musste grübeln und raten.
Die Minuten vergingen. Eine, zwei - irgendwann hatte der große Zeiger einen halben Kreis zurückgelegt. Der monotone Singsang wirkte einschläfernd. Bis sie beinahe spürte , wie die Atmosphäre in der Küche umschlug.
Albas Gebet und das sanfte Schaukeln wirkten nicht mehr albern. Alle Wände schienen sich zu öffnen.
Mach weiter so, wollte Ylva rufen, doch sie brachte keinen Ton heraus, fürchtete, diese Stimmung zu zerstören. Eine Stimmung, die sie fast dazu brachte, ebenfalls auf die Knie zu fallen und zu beten, ohne zu hinterfragen, zu wem eigentlich.
Im Zimmer waberte die Dunkelheit, die Finsternis verwandelte sich in einen schwarzen Nebel und verdichtete sich immer weiter. Bis sich aus den finsteren Wogen eine Gestalt schälte. Kein Monster - eine Frau. Klein und schlank, mit Kurzhaarfrisur und in einem gemütlichen Flanellanzug mit unzähligen aufgedruckten gelben Küken. Durch und durch menschlich stieg sie aus dem Nebel.
Ungläubig starrte Ylva die Erscheinung an. Und das sollte eine Hexe, eine Mächtige sein? Auch Alba schien die fremde Präsenz zu spüren und öffnete, am ganzen Körper bebend, die Augen. Ihre Lider flatterten. Die Meditation schien sie all ihrer Kraft beraubt zu haben.
»Evy?« Ihre Stimme klang rau und geschwächt. Sie schluckte mühsam. »Bist du das?«
Mit bloßen Füßen schritt die Hexe durch die Küche auf sie zu. Ihre Sohlen hinterließen dunkle Abdrücke, in denen sich Schatten reckten und die gleich darauf in dünnen Rauchzungen verdampften. »Sieht nicht danach aus, was? Bei dem Brand musste ich meinen Körper wechseln, nun stecke ich hier.« Mit beiden Händen fuhr sie sich über den flachen Busen. »Nicht sonderlich sexy, oder? Ein Glück, dass Adrián mich nicht so
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