Hexenseelen - Roman
fand das Tier auf Conrads Schulter Platz, von der aus es eindringlich zu fiepen begann. Der elende Verräter! Sie begann erneut, sich in Conrads Griff zu winden und um
sich zu treten. Nicht um sich zu befreien - wie sinnlos das war, hatte sie bereits begriffen -, sondern um ihre Wut an ihm auszulassen.
Wach auf! Abermals durchfuhr der fremde Gedanke ihren Geist, diesmal noch intensiver als zuvor. Ylva verharrte auf der Stelle und lauschte in sich hinein. Alles, was sie tat, fühlte sich falsch an. So gezwungen. So … als gäbe es eine andere Ylva, der all das widerstrebte, wozu ihre Instinkte - oder war es etwas anderes? - sie verleiteten.
»Bitte, komm endlich zu dir!« Der Kummer in der Stimme des Totenküssers spaltete ihren Verstand endgültig und weckte Gefühle, die sie vergessen hatte - vergessen sollte!
Ihr Blick wanderte zu ihrer Königin, die von dem anderen Nachzehrer gehalten wurde, wie wild zappelte und etwas brüllte, was man kaum noch verstehen konnte. Der Wind wehte ihren Duft herbei. Ylva sog ihn tief in sich ein und fand zurück zu ihrem Frieden, zu ihrem Selbst. Die Warnung fiel ihr wieder ein: Ein böser Mann … Und eine andere Mahnung, die einst nicht minder eindringlich an sie gerichtet wurde: Er ist dein Tod, Ylva. Dein Tod.
Noch hielt der Totenküsser sie in den Armen, nicht mehr mit aller Gewalt, sondern wie etwas Kostbares und überaus Zerbrechliches. Ylva sammelte ihre Kräfte. Sie fuhr herum, soweit es ihr sein Griff erlaubte, packte ihn und biss ihm in den Hals. Auf der Zunge schmeckte sie Blut und nahm zum ersten Mal bewusst den Geruch
seines Lebenssaftes wahr, der nur noch mehr Abscheu in ihr hervorrief. Der Totenküsser japste und ließ sie los. Ylva taumelte einige Schritte zurück. Sein Duft vergiftete alles ringsherum, das Blut schmeckte schimmelig, doch sie durfte ihre Pflicht nicht vergessen. Viel Zeit hatte sie nicht mehr. Ylva würgte und rang nach Luft, während sie benommen auf das Feuer zustakste, von einem einzigen Drang erfüllt: das Seelentier der Königin zu retten.
Aus dem Augenwinkel registrierte sie eine Flamme, die durch die Luft flog, ein flackerndes Lichtlein in der Dunkelheit. Erneut zerschellte Glas, diesmal wenige Meter vor ihr, und eine Feuerwand schoss in die Höhe. Hitze leckte an ihrem Gesicht, ein warmer Luftzug blies ihr Haar nach hinten, doch sie zwang sich, weiterzugehen, bis sie erneut zurückgezerrt wurde. Mit dem gleichen Ausruf: »Ylva, nein!« Von derselben Kreatur. Er wollte sie einfach nicht in Ruhe lassen, hinderte sie daran, ihre Pflicht zu erfüllen!
Silhouetten, in der Schwärze der Nacht verborgen, schlichen die Straße entlang. Noch griffen sie nicht an, doch Ylva konnte die bevorstehende Schlacht förmlich spüren. Der Hauch des Todes war so konzentriert, dass er alles wie mit einer gammeligen Schicht zu bedecken schien. Der Wunsch, sich zu putzen, sich in einer dunklen Ecke zu verkriechen und dieses beklemmende Gefühl abzustreifen, überkam Ylva. Aber es waren auch Menschen, die sie umzingelten, viele Menschen.
Linnea schrie nach ihrem Seelentier, weckte mit ihrem
Geheul die Bewohner der anliegenden Häuser. In einigen Fenstern gingen die Lichter an. Dann fiel der erste Schuss.
Ylva wurde herumgerissen und registrierte nur, wie Conrad zusammen mit ihr in die Deckung eines Autos sprang, das am Straßenrand parkte. Der Ruck verschlug ihr den Atem. Sie wurde grob zu Boden gedrückt, das Gesicht dicht am Asphalt, und musste den Gestank der Großstadt schlucken. Roland brachte indes sich und Linnea hinter einem anderen Wagen in Sicherheit. Er zeigte seinen ganzen Körpereinsatz, um die tobende Frau, die nur die Flammen im Blumenladen wahrzunehmen schien, zu halten.
Die Tür des Transporters, der einige Meter weiter entfernt stand, ging auf, und Alba lugte hervor. »Was ist hier los?«
»Bleib, wo du bist!«, rief Conrad ihr zu, als ein ohrenbetäubender Knall seine Worte zerfetzte. Die nächste Kugel schlug in die Scheibe ein und verfehlte die junge Frau nur knapp. Sofort verschwand Alba in der Fahrerkabine. Im Blumenladen platzte etwas und klirrte. Die Flammen knisterten wütend und loderten empor. Gierig verschlangen sie alles, was sie nur zu fassen bekamen. Die Hitze zerfraß das Holz und versengte die Pflanzen, die rußten, einknickten und schrumpelten.
Linnea rollte sich auf dem Boden zusammen, heulte und zischte, als würde das Feuer auch ihren Leib verzehren. Fassungslos starrte Ylva ihre Königin an. Sie spürte den
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