Hexenstein
warmen Kontrapunkt zum ansonsten kühlen Farbraum werten können. Es war auf der linken Hauptsäule angebracht und zeigte zum Eingang. Der Schwung der Striche, die Machart, wies zweifelsfrei auf denselben Verfasser wie drüben im Münster. Das zweite Kreuz fand sich auf der rechten Säule und zeigte in Richtung Münster.
Unter den Augen der Mesnerin, die kopfschüttelnd an der Holzwand lehnte, kratzte sie auch hier einige Proben ab und berichtete von den Maßnahmen des katholischen Kollegen, um die Blutkreuze zu verdecken.
Nachdem sie alle Formalitäten erledigt hatte, blieb sie noch eine Weile alleine in der Bank sitzen. Mit einem Male war ihr selbst die gedämpfte Geräuschkulisse jenseits der Mauern zu viel geworden.
*
Lydia Naber und Robert Funk saßen in einem großzügigen Wohnraum hoch über dem Oberen Schrannenplatz. Einige Fenster waren geöffnet und ab und an waren die energiegeladenen Schreie der Kinder zu hören, die drunten mit, auf und zwischen den Skulpturen vor dem Zeughaus spielten. Die kindliche Ausgelassenheit passte weder zur Hitze noch zu den Gefühlsregungen der Menschen im Raum, nachdem Lydia Naber von dem berichtet hatte, was im Haus Kohn geschehen war. Sie wartete geduldig ab, bis sie den Zeitpunkt für günstig hielt Fragen zu stellen.
Überrascht hörten sie, dass das Ehepaar Hendler seit einigen Wochen schon keinen Kontakt mehr zum Ehepaar Kohn hatte. Nach einigem Zieren und Überlegen, war es Frau Hendler, die darlegte, dass es vor allem das in den letzten Wochen und Monaten sonderbare Verhalten von Gundolf Kohn gewesen war, was zur Distanzierung geführt hatte. Auf Robert Funks Nachfrage, was man konkret darunter verstehen konnte, war es ihr Mann, der Worte fand, welche man der vornehmen Erscheinung nicht zugetraut hätte: »Er hat jede Gelegenheit genutzt, um Streit zu suchen, ganz unangenehm, in letzter Zeit auch in der Öffentlichkeit. Es war so nicht mehr hinnehmbar und so haben wir den Kontakt … einschlafen lassen. Er war eh nie sonderlich eng gewesen.«
Im weiteren Gespräch war zu erfahren, dass die Hendlers seit etwa sechs Jahren mit dem Ehepaar Kohn locker bekannt waren, es aber nie zu einer engeren Freundschaft gekommen war. Gundolf Kohns Verhalten seiner Frau gegenüber war den beiden schon immer eigentümlich distanziert erschienen. Sie beschrieben ihn als gebildeten Gesprächspartner und seine Frau als sehr zurückgezogene Persönlichkeit, der es schwerfiel, ihr entgegengebrachte Sympathien zu erwidern, wie Frau Hendler sich ausdrückte. Ihr war Carmen Kohn immer wie eine Gefangene ihrer selbst vorgekommen. Auf Lydia Nabers Frage meinte Frau Kohn, dass die eskalierende Veränderung im Laufe des letzten Jahres stattgefunden habe.
Schielin war von der Lindenschanze aus zurück in die Altstadt gegangen. Seine Gedanken nahmen ihn derart gefangen, dass er von den Menschen um ihn herum überhaupt nichts wahrnahm. Vorne, am Marktplatz, musste ein Auto hupen, um ihn von der Straße zu bekommen. Er machte eine kurze Rast in den bequemen Caféstühlen vor der Stephanskirche, trank einen Espresso und suchte im Notizbuch einen kurzen Vermerk. Der kleine Café wirkte sofort und jagte den Kreislauf nach oben. Schielin brauchte die Serviette, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Die Glocken des Münsters schlugen die Stunde und endlich fand er, wonach er gesucht hatte. Eine Quittung, erst wenige Tage alt, war in den Unterlagen Gundolf Kohns aufgetaucht. Gundolf Kohn hatte etwas erworben – ein Buch.
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Laurenz Brender blieb im Erdgeschoss, wo es ihm erträglicher schien als oben, wo die breiten, zum See und den Bergen ausgerichteten Fensterfronten die Hitze so gefügig einließen.
Er verstand diese Frau dort oben nicht, wie sie ihre Tage in dem großen Zimmer verbringen konnte, still dasitzen, den Blick ruhig auf das immer gleiche Wasser und die ewig gleichen Berge gerichtet. Als hätte sie Bodensee, Säntis, Altmann, Churfirsten und wie das ganze Felszeugs sonst noch hieß, nicht schon zur Genüge vor Augen gehabt. War ihr Leben vielleicht zu kurz gewesen, um genug davon zu bekommen, dass sie nun so exzessiv den Blick dorthin richtete. Seine Mutter war ihm fremd und er vermied es, allzu lange bei ihr oben zu verweilen. Es war auch die Hitze, die ihn quälte und es machte ihn zornig, denn dieser alten, kranken Frau war nichts anzumerken. Sein Ärger hatte aber noch einen anderen Quell: Er hatte insgeheim gehofft, die so plötzlich auftretende Hitze würde ihren
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