Hexenstein
Hammerschmiede. Jasmin Gangbacher hielt ihre Hand vor die Scheiben an der breiten Giebelseite und blickte ins Innere. Hinter einem Durchgang war der mächtige, alte Hammerkopf zu sehen, der von Wasserkraft angetrieben worden war. Sie lehnte an den alten Mauern und blätterte in dem Faltblatt, überflog den Gang der Mühle durch die Jahreszeiten.
Eine alte Frau kam von der Wiese hinter der Mühle her, auf Jasmin Gangbacher zu. Sie trug einen kleinen Weidekorb und zog das rechte Bein etwas nach.
Die junge Frau, die da zwischen dem fremden Auto und der Voglerschen Hammerschmiede stand, schien sie zu interessieren, denn sie hielt unvermindert auf sie zu und suchte nicht in einigem Abstand und Anonymität einer Begegnung auszuweichen. Ohne besonderen Anlass entwickelte sich gleich ein kurzes Gespräch, ohne dass Jasmin Gangbacher hätte sagen können, wie es seinen Anfang genommen hätte. War es ein einfacher Gruß gewesen? Die Frau erzählte, dass sie den letzten Schmied und seine Frau noch gekannt hatte. Jasmin Gangbacher hörte freundlich zu. Erinnerungen, es waren nichts weiter als Erinnerungen, die uns zu dem machten, was wir waren.
Nach der Verabschiedung blieb sie etwas enttäuscht stehen und sah über den letzten Absatz des Textes. Es war die Erinnerung, die ihr sagte, diesen Namen, der in kursiven Lettern darunterstand und die Autorenschaft belegte, schon einmal gelesen zu haben. Ganz deutlich stand hier Nora Seipp und sie konnte sich nicht vorstellen, dass es sich um einen Zufall handelte. Schielin und Lydia mussten das schnell erfahren.
*
Schielins Kopf war nach dem Gespräch mit Kimmel so voller ungeordneter Gedanken über das Ehepaar Kohn und diesen ihm immer mysteriöser erscheinenden Unfall, dass er mehr Raum zum Denken benötigte. Eine Bank. Diesmal brauchte er eine Bank. Mit dem altersschwachen Passat zuckelte er die paar Meter über die Aeschacher Kreisverkehre, in die Wackerstraße und parkte das Auto in der Giebelbachstraße, gleich am Armbruster-Haus. Er schlenderte unter den Linden entlang und überlegte, welche der Bänke ihm denn gefallen konnte. Rechter Hand lag in mattem Postkartenidyll die Hintere Insel mit Pulverturm und Luitpoldkaserne. Aus der Skyline jahrhundertealter Häuser reckten sich die Stufen von Treppengiebeln, Dachschmuck, Türmchen und Podeste. Dahinter lag die Kulisse der Berge in dunklerem Grau vor einem Beige, welches über den Gipfeln hing.
Er war bis kurz vor den Bahndamm gekommen und setzte sich auf eine der Bänke am Aeschacher Bad. Es stimmte, was der Berliner gesagt hatte – überall konnte man sitzen. Schielin kam sich als Einheimischer etwas fehl am Platze vor. Vielleicht lag darin auch der Grund, dass man die Fülle an Bänken als Lindauer übersah, weil man nicht der Meinung war, sie stünden auch für einen selbst an ihrem Ort, seien das uneingeschränkte Eigentum der Urlauber. Es war ein eher bewusster Vorgang eine entspannte Sitzhaltung einzunehmen und nicht das Ergebnis großer Selbstverständlichkeit. Erst der längere Blick hinüber zur Insel und auf die schemenhafte Gestalt der Berge ließ ihn allmählich zur Ruhe kommen. Jetzt spürte er die Hitze wieder. Kein Hauch kam vom Wasser her, das träge an die Ufermauer schwappte, ganz ohne Wellenschwung, mehr wie heißes Öl. Das Fiebrige, das den See heimgesucht hatte, würde irgendwann ein Ende haben, dachte er, und wischte den Schweiß von der Stirn. Bald würden hier wieder Wellen schlagen und Gischt spritzen. Doch selbst in seinen heftigsten Ausbrüchen, in seinen wildesten Stunden, blieb der See ein gutmütiges Wasser. Das völlig entfesselte Toben des Meeres ging ihm ab. Dazu standen die Gipfel der Berge zu nahe.
Das helle Geräusch der Schrankenglocke schreckte Schielin aus seinen Gedanken. Langsam senkten sich die weißroten Balken und ein Zug rollte kurz darauf gemächlich über den Bahndamm hinüber zur Insel. Schielins Augen richteten sich auf das Aeschacher Bad und studierten das verwirrende und doch voller kunstvoller Ordnung steckende Balkenkonstrukt, auf dem der anmutige Holzbau Halt fand.
In der kurzen Zeit, die die Schranke geschlossen war, sammelten sich beiderseits des Gleisbettes Spaziergänger, Hundebesitzer, Karrenfahrer, Schrebergartler und Bodensee-Radrundfahrer. Letztere waren ihrer Aufmachung wegen von allen anderen gut zu unterscheiden. Ihre Dresses und Helme leuchteten in grellen Farben in den Tag und allesamt waren sie derart ausstaffiert, als wären sie auf dem Weg zu einem
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