Hexenstein
verloren und traurig auf der Rückbank lag.
Zwei Burschen, ein Mädchen? Und zwei Handtaschen. Das passte nicht. Niemals.
Er suchte die eingescannten Unterlagen durch und fand die Dokumentation der am Unfallort sichergestellten Gegenstände, alles sehr ordentlich. Die Identität von Fahrer und Beifahrer war anhand der Geldbeutel erfasst worden.
Die hatten den Brand fast schadlos in den Gesäßtaschen überstanden. Auch die Handtasche von der Rückbank war aufgeführt. Der Kunststoff war stark verschmort, ebenso der Inhalt. In einer Lederbrieftasche hatte man den Ausweis von Helen Sander gefunden, noch gut lesbar. Ein Stück weiter unten war die zweite Handtasche aufgeführt, die am Rand der Straße gelegen hatte, wie auf dem Foto zu sehen gewesen war. Eine kurze Notiz vermerkte, dass diese Handtasche leer gewesen war.
Diese Handtasche hatte also keine Identität.
Zwei Burschen, ein Mädchen, zwei Handtaschen. Es beschäftigte ihn.
*
Am nächsten Tag rief Schielin gleich in der Frühe in der Weissenau an, brachte sein Anliegen Frau Kohn betreffend vor und erbat einen baldigen Rückruf. Sein Wunsch machte schließlich keine Umstände. Dann ging er nach vorne, in Kimmels Büro, und erzählte von dem, was ihn an der alten Unfallakte beschäftigte. Kimmel war von der Geschichte über den historischen Unfall, wie er es nannte, und die zweite Handtasche gar nicht begeistert. Schielins Verdacht, dass der aktuelle Fall Kohn durchaus mit diesem Unglück in Zusammenhang stehen konnte, erschien ihm zu exotisch. Er äußerte, man solle sich voll und mit allen Kräften auf die Haubachers konzentrieren. Deren Anwesenheit am Tatort war durch mehrere hübsche Beweise gesichert. Man war sogar in der selten glücklichen Lage durch ein von den Tätern selbst gefertigtes Foto beweisen zu können, wie die beiden die Leiche von Gundolf Kohn in den Verschlag geschafft hatten. Und das Motiv war ja so was von klassisch. Kimmel liebte alles Klassische, wenn es nur nichts mit Musik zu tun hatte. Und fünfzehntausend Euro, die zum Zugreifen animierend und derart aufreizend in einer Wohnung herumlagen, waren ein durchweg klassisches Motiv für einen klassischen Raubmord. Kein Anwalt der Welt haut die da noch raus, war sich Kimmel sicher.
Die seinem Plädoyer gegenüber ausbleibende Zustimmung Schielins bekümmerte ihn. Schielin sprach plötzlich von einem größeren Zusammenhang, in welchem man den Fall betrachten müsste. Kimmel wollte davon nichts hören. Was war nur plötzlich los auf seiner Dienststelle? Erst startete Erich Gommert einem Selbsterfahrungstrip, dann sympathisierte Jasmin Gangbacher mit diesem okkulten Zeug und jetzt scheute sein erfahrener Mordermittler vor einem Täterpärchen zurück, das ihnen auf dem silbernen Tablett präsentiert wurde. Kimmel verstand die Welt nicht mehr. Es musste an dieser elenden Hitze liegen, die die Stadt und alle Menschen plagte. Wann kam endlich wieder etwas Wind auf und wann endlich donnerte ein Gewitter über den See und machte Frieden. Kimmel wischte den Schweiß von der Stirn und blieb entkräftet hinter seinem Schreibtisch sitzen, denn er ahnte, dass seine klassische Fallkonstruktion es nicht bis in den Gerichtssaal schaffen würde. Dazu kannte er Conrad Schielin zu gut. Ein größerer Zusammenhang hatte Schielin gesagt, ein größerer Zusammenhang.
Kimmel hatte ganz vergessen Schielin zu fragen, wie es denn seiner Frau und den Kindern ging – und dem Esel.
Es machte ihm dann auch nichts mehr aus, als Erich Gommert kurz darauf ins Büro trat und davon berichtete, dass ein Herr Scheibenstein aus München gestern Vormittag auf der Dienststelle gewesen sei, um sich umzusehen, und dass er – Erich Gommert – dem Herrn die Reste vom Williams mitgegeben habe. Den Giererschen Müller-Thurgau habe er hierbehalten, dem Herrn aus München aber bestens empfohlen.
Kimmel nahm all das schweigend zur Kenntnis und sinnierte darüber, ob es nicht vielleicht an der Zeit war, sich auch ein Tier anzuschaffen, in Zeiten, in welchen die Menschen und die Umstände so kompliziert wurden.
Ansonsten ließ er seine Gedanken nicht nach außen dringen. Auch dann nicht, als er kurz darauf erfuhr, dass Jasmin Gangbacher nach Amtzell unterwegs war. Dieser gemütliche Ort lag jenseits jener unsichtbaren Grenze zu Baden-Württemberg. Und somit war Amtzell für bayerische Polizisten, was Amtshandlungen betraf, so weit von Lindau entfernt wie Timbuktu oder Caipirinha. Aber was scherte er sich noch um solche
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