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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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weiten Bademantel mit dem strammen Gürtel um die Taille, ein Ganymed mit weich fallendem Pagenkopf. Er wollte zu ihr gehen, aber sie winkte ab, und er blieb, wo er war.
    »Da ist so vieles. Weißt du, in meiner Phantasie habe ich es dir erzählt, ausgerechnet dir…«
    »Aber ich bin ja hier, ich höre dir zu«, sagte er. »Wenn du es mir erzählen möchtest…« Wie konnte er in Worte fassen, daß sie ihn faszinierte, ganz und gar fesselte – und wie bemerkenswert das war, nach all diesen Wochen voller Panik und Irrsinn.
    Mit leiser Stimme berichtete sie, wie es ihr ergangen war: Schon immer hatte sie die Wissenschaft geliebt. Wissenschaft war Poesie für sie. Daß sie Chirurgin werden würde, hatte sie nie erwartet. Was sie faszinierte, war die Forschung, die unglaublichen, beinahe phantastischen Fortschritte der Neurologie. Sie wollte ihr ganzes Leben im Labor verbringen, denn dort, glaubte sie, gab es Gelegenheit für wahres Heldentum. Sie hatte eine natürliche Begabung für diese Arbeit, das konnte man ihr glauben. Die hatte sie. Und die neueste Entwicklung war voller Wunder gewesen; aber dann ist ihr Mentor – sein Name war unwichtig, und inzwischen war er ohnehin tot, kurz nach dieser Geschichte – ironischerweise an einer Serie kleiner Schlaganfälle gestorben, und alle Chirurgen der Welt hatten es nicht vermocht, die tödlichen kleinen Gefäßrisse zu klammern und zu nähen… aber das hatte sie erst später erfahren. Um zu ihrer Geschichte zurück zu kommen: Er hatte sie an einem Weihnachtsabend in das Institut in San Francisco mitgenommen, am Weihnachtsabend, weil das der einzige Abend war, an dem wirklich kein Mensch da sein würde, und er hatte gegen die Vorschriften verstoßen, als er ihr gezeigt hatte, woran sie arbeiteten. Und es war Forschung am lebenden Fötus gewesen.
    »Ich habe ihn im Inkubator gesehen, diesen kleinen Fötus. Weißt du, wie er ihn nannte? Er nannte ihn ›den Abort‹. Oh, ich finde es furchtbar, dir das zu erzählen, denn ich weiß, was dir der Gedanke an Little Chris bedeutet, ich weiß…«
    Sie bemerkte nicht, wie er erschrak. Er hatte ihr nicht von Little Chris erzählt, hatte überhaupt niemandem diesen Kosenamen verraten, aber sie schien sich dessen überhaupt nicht bewußt zu sein, und so blieb er stumm sitzen und hörte ihr zu. Er wollte sie nicht unterbrechen; er wollte, daß sie weitersprach.
    »Und dieses Ding war am Leben erhalten worden«, fuhr sie fort. »Nach einer Abtreibung im vierten Monat; und, weißt du, er war dabei, Methoden der Lebenserhaltung für noch jüngere Föten zu entwickeln. Er sprach davon, Embryonen gleich in Reagenzgläsern zu züchten und sie gar nicht erst in den Uterus zu pflanzen – und das alles nur, um ihre Organe zu ernten. Du hättest seine Argumente hören sollen: daß der Fötus eine entscheidende Rolle in der menschlichen Lebenskette spiele – ist das zu fassen? -, und jetzt kommt der schreckliche Teil, der wirklich schreckliche Teil, nämlich, daß das Ganze irgend wie absolut faszinierend war und daß ich hingerissen war. Ich sah die potentiellen Verwendungsmöglichkeiten, die er beschrieb.
    O Gott, was da alles möglich wurde, und was ich mit meinem Talent alles erreichen könnte!«
    Er nickte. »Das kann ich mir vorstellen«, sagte er leise. »Ich sehe die entsetzliche, aber auch die verlockende Seite.«
    Die Sonne ging auf. Sie schien auf die Dielen zu ihren Füßen, aber Rowan bemerkte es nicht einmal. Sie weinte wieder leise, und die Tränen rannen ihr einfach über die Wangen, während sie sich mit dem Handrücken über den Mund wischte.
    Sie erzählte, wie sie aus dem Labor weggelaufen, wie sie überhaupt vor der Forschung weggelaufen war, vor all dem, was sie dort vielleicht hätte erreichen können.
    »Mein Selbstvertrauen als Chirurgin ist nichts im Vergleich zu dem, was ich im Labor aus mir hätte herausholen können. Und ich will dir noch etwas erzählen, etwas, das du deiner Hände und deiner Visionen wegen wahrscheinlich verstehen kannst, etwas, das ich einem anderen Arzt niemals erzählen würde, weil es keinen Sinn hätte. Wenn ich operiere, stelle ich mir vor, was ich tue. Das heißt, im Geiste habe ich ein detailliertes, multidimensionales Bild von der Wirkung meiner Aktionen. Als du tot an Deck des Bootes lagst und ich dich von Mund zu Mund beatmete, da sah ich deine Lunge, dein Herz, die Luft, die in deine Lunge strömte. Und als ich den Mann im Jeep umbrachte, als ich das kleine Mädchen tötete, da

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