Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
Vom Netzwerk:
Trümmern der Zuschauertribüne lag Chrétien, der Kleine, so verrenkt, daß kein Leben mehr in ihm sein konnte.
    Philippe, der Ältere, kroch auf Händen und Knien umher und suchte einen Unterschlupf; ein Bein war anscheinend gebrochen. Da kam ein Holzladen heruntergesaust und brach ihm das Genick, und auch er sank tot zusammen. Und dann kreischte jemand, der sich neben mir an die Mauer duckte: »Die Comtesse!« Und er zeigte nach oben.
    Da stand sie, hoch oben auf der Kirchenwand, in halsbrecherischer Höhe an der Dachkante, und wieder hob sie die Hände zum Himmel und rief ihren Geist. Doch im Heulen des Sturmwinds, im Geschrei der Verletzten, im Geprassel von Dachpfannen und Mauersteinen und zersplittertem Holz war es mir unmöglich, ihre Worte zu verstehen.
    Ich lief zur Kirche und suchte drinnen in panischer Hast nach der Treppe. Da war auch Louvier, der Inquisitor; er rannte hin und her, fand die Treppe vor mir, eilte voraus.
    Ich setzte ihm nach, höher und höher; über mir sah ich seine schwarzen Gewänder, hörte ich das Trappeln seiner Sohlen auf den Steinstufen. Oh, Stefan, hätte ich da einen Dolch gehabt – doch ich hatte keinen.
    Und als wir oben die offene Vormauer erreicht hatten, als er vor mir ins Freie stürzte, da sah ich Deborahs Körper gleichsam vom Dach fliegen. Ich trat an die Kante, spähte hinunter in die Verwüstung und sah sie zerschmettert auf dem Pflaster liegen. Ihr Gesicht war aufwärtsgewandt, ein Arm lag unter dem Kopf, der andere über der Brust, und ihre Augen waren geschlossen, als schlafe sie.
    Louvier fluchte, als er sie entdeckte. »Verbrennt sie, werft die Leiche auf den Scheiterhaufen!« schrie er, aber es nutzte nichts. Niemand konnte ihn hören. Bestürzt wandte er sich um, vielleicht um hinunter zueilen und weiter das Kommando zu führen, als er mich dort stehen sah.
    Und mit einem Ausdruck grenzenlosen Staunens starrte er mich an, hilflos und verwirrt, als ich ihn, ohne zu zögern, mit aller Gewalt gegen die Brust stieß, so daß er rückwärts taumelte und über die Dachkante hinab stürzte.
    Niemand hat es gesehen, Stefan. Wir standen auf dem höchsten Punkt von Montcleve. Kein anderes Dach erhob sich über das der Kirche. Selbst vom fernen Château war diese Kante nicht zu sehen, und die Leute unten auf dem Platz konnten mich ebenfalls nicht bemerken, da Louvier selbst mich verdeckte, als ich meinen Schlag führte. Ich zog mich sofort zurück und vergewisserte mich, daß niemand mir herauf gefolgt war; dann stieg ich die Treppe hinunter und trat durch das Portal. Da lag das Werk meiner Hände: Louvier, ebenso tot wie meine Deborah und ganz in ihrer Nähe; sein Schädel war zerschmettert und blutete, die Augen standen offen und zeigten jenen dumpfen, stupiden Ausdruck des Todes, den ein Menschenwesen im Leben niemals ganz erreicht.
    Wie lange das Unwetter noch andauerte, vermag ich nicht zu sagen – nur, daß es bereits nachließ, als ich unten bei der Kirchentür anlangte: vielleicht eine Viertelstunde, alles in allem, und somit genau die Frist, die das Ungeheuer meiner Deborah zum Sterben auf dem Scheiterhaufen zugestanden hatte.
    Aus dem Dunkel des Kirchenvorraums beobachtete ich, wie der Platz sich endlich doch leerte und wie die letzten über die Leiber kletterten, die jetzt allenthalben die Seitengassen verstopften. Ich sah, wie es heller wurde. Ich hörte, wie der Sturm erstarb. Still stand ich da und betrachtete schweigend den Leichnam meiner Deborah, und ich sah, daß ihr das Blut jetzt aus dem Munde quoll und daß auch ihr weißes Hemd voller Blut war.
    Nach einer geraumen Weile erschienen etliche Menschen wieder auf dem Platz; sie untersuchten die Toten wie auch diejenigen, die noch lebten und weinten und um Hilfe flehten; hier und da hob man Verletzte auf und trug sie davon. Der Gastwirt kam mit seinem Sohn herausgerannt und kniete bei dem Leichnam Louviers nieder.
    »Ich hab’s Euch gesagt, sie war eine große Hexe«, flüsterte er, als er mich erkannte. Er blieb neben mir stehen und starrte die Tote an, und unterdessen sammelte sich die bewaffnete Garde, verstört, verschrammt und furchtsam, und auf den Befehl eines jungen Priesters mit blutiger Stirn hoben sie Deborah auf, wobei sie umherblickten, als fürchteten sie, der Sturm werde von neuem losbrechen, was er aber nicht tat, und trugen sie zum Scheiterhaufen. Der Berg aus Holz und Kohle begann zu wanken und einzubrechen, als sie die Leiter erklommen, die daran lehnte, und behutsam legten sie sie

Weitere Kostenlose Bücher