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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Bürgermeister wahrscheinlich; dieser eine jedenfalls hielt eine Pergamentrolle in den Händen, und ein bewaffnetes Wächterpaar trat ihm zur Seite.
    Und vor das verstummende, staunende Publikum trat meine Deborah, aufrecht und mit hoch erhobenem Kopf; ihr magerer Körper war von einem weißen Hemd bedeckt, das bis auf ihre nackten Füße herabhing, und mit beiden Händen hielt sie die sechspfündige Kerze vor sich, während ihr Blick über die Menge wanderte.
    Noch nie in meinem ganzen Leben habe ich solche Furchtlosigkeit gesehen, Stefan, obgleich meine Augen, als ich aus meinem Fenster im Gasthof hinüberschaute und unsere Blicke sich trafen, in Tränen schwammen. Ich kann nicht mit Gewißheit sagen, was nun folgte – nur, daß Deborah just in dem Moment, da alle die Köpfe drehten, um zu sehen, wen »die Hexe« da so unverwandt anschaute, sich wieder von mir abwandte und die Szenerie vor ihr betrachtete; mit gleicher Aufmerksamkeit verharrte ihr Blick auf den Ständen der Weinhändler und der Höker, auf den zusammen gewürfelten Menschengruppen, die vor ihrem Blick zurückwichen, und schließlich auf der Zuschauertribüne, die vor ihr aufragte, auf der alten Comtesse, die sich vor dieser stummen Anklage zu wappnen suchte, und auf der Comtesse de Chamillart, die sogleich auf ihrem Sitz zu zappeln begann und mit puterrotem Gesicht zu der alten Comtesse hinübersah, die reglos sitzenblieb.
    Unterdessen schrie Pater Louvier, der große, triumphale Inquisitor, mit heiserer Stimme dem Bürgermeister zu, er solle die Proklamation in seinen Händen verlesen: »Das Verfahren muß beginnen!«
    Ein Rumoren erhob sich unter den Versammelten; der Bürgermeister räusperte sich, um mit dem Lesen zu beginnen, und ich vergewisserte mich dessen, was ich bereits gesehen, jedoch nicht zur Kenntnis genommen hatte: daß Deborahs Hände und Füße nicht gefesselt waren.
    Jetzt hatte ich die Absicht, mein Fenster zu verlassen und mich – falls nötig, mit gröbsten Mitteln – bis in die vorderste Reihe der Zuschauer zu drängen, um in ihrer Nähe sein zu können, ungeachtet aller Gefahr, in die ich mich damit vielleicht bringen würde.
    Und ich wollte mich eben abwenden, als der Bürgermeister mit quälender Langsamkeit in lateinischer Sprache zu lesen begann. Da erklang Deborahs Stimme. Sie ließ ihn verstummen und befahl der Menge, zu schweigen.
    »Ich habe euch nie etwas getan, auch nicht den Ärmsten unter euch!« verkündete sie. Sie sprach langsam und laut, und ihre Stimme hallte von den Steinmauern wider, und als Pater Louvier aufsprang und ihr zu schweigen befahl, erhob sie ihre Stimme nur noch mehr und erklärte, sie werde nun sprechen.
    »Stopft ihr das Maul!« befahl die alte Comtesse wütend, und wieder brüllte Louvier dem Bürgermeister zu, er solle seine Proklamation verlesen, und der verängstigte Pastor schaute zu den bewaffneten Wachen hinüber, aber die hatten sich seitwärts zurück gezogen und starrten angstvoll, wie es schien, Deborah und die erschrockene Zuschauermenge an.
    »Man wird mich anhören!« rief meine Deborah so laut wie zuvor. Sie trat einen einzigen Schritt vor, um im Sonnenlicht zu stehen, und wie eine große, wimmelnde Masse wichen die Zuschauer zurück.
    »Zu Unrecht hat man mich als Hexe verurteilt«, rief Deborah, »denn weder bin ich eine Ketzerin, noch bete ich Satan an, und ich habe keiner Menschenseele hier etwas Böses getan!«
    Und bevor die alte Comtesse dazwischen brüllen konnte, fuhr Deborah fort:
    »Ihr, meine Söhne, ihr habt gegen mich gezeugt, und dafür verstoße ich euch! Und du, meine geliebte Schwiegermutter, hast dich mit deinen Lügen selbst zur Hölle verdammt!«
    »Hexe!« kreischte die Comtesse de Chamillart, die jetzt vollends in Panik geraten war. »Verbrennt sie. Werft sie auf den Scheiterhaufen.«
    Daraufhin drängten einige wieder nach vorn, von der Angst vielleicht ebenso wie von dem Verlangen nach Heldentum getrieben und vielleicht, um sich in günstiges Licht zu setzen – vielleicht aber war es auch bloße Verwirrung. Aber die bewaffneten Wachen rührten sich nicht.
    »Hexe nennst du mich!« antwortete Deborah sofort, und mit großartiger Gebärde schleuderte sie die Kerze vor sich auf die Steinstufen und hob die Hände vor den Männern, die sie gern festgehalten hätten, es aber lieber bleiben ließen. »Höret meine Worte!« rief sie. »Ich werde euch Hexenkünste zeigen, die ich euch noch nie gezeigt habe!«
    Die Menge war stumm vor Angst. Manche verließen

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