Hexenstunde
gleich den Platz, andere drängten den engen Gassen zu, die von ihm wegführten, und selbst die auf der Tribüne waren aufgesprungen; der kleine Chrétien vergrub das Gesicht an der alten Comtesse und bebte schluchzend.
Aber Hunderte von Augenpaaren auf dem engen Platz blickten weiter starr auf Deborah, die ihre dünnen und zerschlagenen Arme emporstreckte. Ihre Lippen bewegten sich, aber ich hörte kein Wort von ihr. Doch jetzt ertönten Schreie irgendwo unten vor dem Fenster, und dann hörte man ein Grollen über den Dächern, viel leiser als Donner und deshalb viel schrecklicher, und ein mächtiger Wind kam plötzlich auf, und mit ihm ein neues Geräusch, ein dumpfes Knarren und Reißen, das ich zunächst nicht zu deuten wußte, dann aber aus manchem anderen Sturm wiedererkannte – die alten Dächer der Stadt übergaben dem Wind ihre losen und zerbrochenen Dachpfannen.
Sofort fielen die Pfannen von den Dachkanten herunter, sie regneten hernieder, eine hier, ein halbes Dutzend dort, und der Wind heulte und sammelte sich über dem Platz. Die Holzläden des Gasthauses flogen an ihren Angeln hin und her, und meine Deborah kreischte durch all diesen Lärm und durch die panischen Schreie der Menge.
»Komm her, mein Lasher, sei mein Rächer, strecke meine Feinde nieder!« Sie beugte sich vor und hob die Arme, und ihr Gesicht war rot und wutverzerrt. »Ich sehe dich, Lasher, ich kenne dich, ich rufe dich!« Und sie richtete sich auf und spreizte die Arme: »Vernichte meine Söhne, vernichte meine Ankläger! Vernichte alle, die gekommen sind, mich sterben zu sehen!«
Und die Pfannen krachten von den Dächern, von der Kirche, dem Kerker und der Sakristei herab, herab auch von den Dächern der Gasthäuser, und sie sausten nieder auf die Köpfe der Schreienden dort unten, und die Tribüne, roh erbaut aus zerbrechlichen Brettern und Stangen und Seilen, begann im Wind zu schwanken, derweil die Menschen darauf sich festklammerten und um ihr Leben schrien.
»Verbrennt die Hexe!« brüllte Pater Louvier und versuchte, sich zwischen den von Panik erfaßten Männern und Frauen hindurchzudrängen, die unterdessen in heilloser Flucht übereinander stolperten. »Verbrennt die Hexe, und der Sturm hört auf!«
Aber niemand machte Anstalten, ihm zu gehorchen, und obschon allein die Kirche Schutz vor diesem Unwetter bieten konnte, wagte sich doch niemand dort hinein, denn Deborah versperrte das Portal mit ihren ausgestreckten Armen. Die bewaffnete Wache war kopflos geflüchtet. Der Pastor drückte sich seitlich an die Mauer. Der Bürgermeister war nirgends zu sehen.
Der Himmel über allem war finster geworden. Die Menschen kämpften und fluchten und stürzten in dem Gedränge, und im wütenden Regen der Dachpfannen wurde die alte Comtesse getroffen und kippte vornüber, verlor das Gleichgewicht und flog im Purzelbaum über die sich vor ihr Drängenden hinunter auf das Pflaster. Die beiden Knaben umschlangen einander, als ein Schauer von losen Steinen aus der Fassade der Kirche auf sie hernieder prasselte. Chrétien krümmte sich unter den Steinen wie ein Bäumchen im Hagelsturm und sank dann bewußtlos in die Knie. Jetzt brach die Tribüne vollends zusammen und riß die beiden Kinder und mehr als zwanzig andere mit sich in die Tiefe.
Soweit ich sehen konnte, hatte die gesamte Wache den Platz verlassen, und auch der Pastor war fortgelaufen. Und jetzt bemerkte ich, wie meine Deborah rückwärts in den Schatten zurückwich, derweil ihr Blick noch immer gen Himmel gewandt war.
»Ich sehe dich, Lasher!« rief sie. »Mein starker, schöner Lasher!« Und sie war im Dunkel der Kirche verschwunden.
Da stürzte ich vom Fenster weg und die Treppe hinunter, hinaus auf den kochenden Platz. Was ich im Sinn hatte, weiß ich nicht zu sagen – ich wollte sie nur irgend wie erreichen und im Schutze der Panik von hier fortbringen.
Doch als ich über den Platz hastete, wirbelten die Dachpfannen um mich herum, und eine traf mich an der Schulter und eine zweite an der linken Hand. Von Deborah sah ich nichts; nur die Türflügel der Kirche schwangen trotz ihres großen Gewichts im Sturm hin und her.
Fensterläden hatten sich losgerissen und segelten auf die rasende Menge hernieder, die jetzt die engen Gassen verstopfte. Menschenleiber türmten sich in jedem Torbogen und in jedem Hauseingang. Die alte Comtesse lag tot auf dem Steinpflaster, den starren Blick zum Himmel gewandt, und Männer und Frauen stolperten über ihren Körper. Und in den
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