Hexenstunde
Schreibzeug, damit ich mir Notizen machen kann.«
»Sie brauchen ein Notizbuch, damit Sie alle Ihre Gedanken festhalten können, alles, was Ihnen zu den Visionen wieder einfällt.«
»Genau. Ich wünschte, ich hätte von Anfang an ein solches Notizbuch geführt.«
»Ich lasse Ihnen eines hinaufbringen. Aber jetzt lesen Sie bitte weiter. Sie bekommen gleich frischen Kaffee. Und wenn Sie sonst etwas wollen, klingeln Sie einfach.«
»Das genügt schon. Aaron, da ist so vieles…«
»Ich weiß, Michael. Versuchen Sie, ruhig zu bleiben. Lesen Sie einfach.«
Michael legte auf. Er zündete sich eine Zigarette an, trank einen Schluck von dem alten Kaffee und starrte auf den Deckel der zweiten Akte.
Als es klopfte, ging er gleich zur Tür.
Die freundliche Frau, die er im Flur gesehen hatte, brachte frischen Kaffee, ein paar Stifte und ein hübsches, ledergebundenes Notizbuch mit sehr weißem linierten Papier. Sie stellte das Tablett auf den Schreibtisch, nahm das alte Service weg und ging leise hinaus.
Er setzte sich wieder, schenkte sich eine neue Tasse Kaffee ein und klappte sofort das Notizbuch auf.
Er dachte einen Moment lang nach – falls man diese Konfusion in seinem Kopf denken nennen konnte -, und dann zeichnete er das Bild einer goldenen Halskette mit einem rechteckigen Edelstein in einer filigranen Umrandung. Er zeichnete sie so, wie er einen Architekturentwurf zeichnen würde, mit sehr sauberen, geraden Linien und leicht schattierten Details.
Dann betrachtete er die Zeichnung, und die behandschuhten Finger seiner Linken nestelten nervös in seinem Haar, ehe er sie zur Faust ballte und auf den Schreibtisch legte. Er wollte die Zeichnung durchstreichen, doch dann besann er sich.
Er öffnete die zweite Akte und begann zu lesen.
14
DIE AKTE ÜBER DIE MAYFAIR-HEXEN
TEIL II
Marseille, Frankreich
4. Oktober 1689
Lieber Stefan,
nun bin ich nach etlichen Tagereisen von Montcleve hierher nach Marseille gelangt; unterwegs habe ich in Saint-Rémy Rast gemacht und bin von dort sehr gemächlich weitergereist, um meine verletzte Schulter und meine verletzte Seele zu schonen.
Wenn sich schon bis hierher herumgesprochen hat, was zu Montcleve geschehen ist, so habe ich es noch nicht gehört. Und da ich am Rande von Saint-Rémy meine geistlichen Gewänder abgelegt habe und seitdem ein vermögender holländischer Reisender bin, glaube ich nicht, daß irgend jemand mich wegen jener jüngsten Ereignisse in den Bergen behelligen wird – denn was sollte ich schon von diesen Dingen wissen?
Deborahs Hinrichtung begann ähnlich wie viele andere, indem sich, kaum daß die ersten Strahlen der Morgensonne auf den Platz vor der Kathedrale von Saint-Michel fielen, die ganze Stadt dort versammelte, so daß die Weinhändler gute Gewinne machten; die alte Comtesse, düster gekleidet, erschien mit zwei zitternden Kindern, dunkelhaarig und dunkelhäutig alle beide, mit dem Stempel des spanischen Blutes auf ihrer Erscheinung, aber von einer Größe und Zierlichkeit der Gliedmaßen, die das Blut der Mutter erkennen ließen. Die beiden Kinder hatten große Angst, als sie nun auf die höchsten Plätze der Zuschauertribüne vor dem Scheiterhaufen, dem Kerker gegenüber, hinaufgeführt wurden.
Anscheinend begann der Kleine, Chrétien, zu weinen und klammerte sich an seine Großmutter, woraufhin erregtes Gemurmel durch die Menge ging. »Chrétien, schaut euch Chrétien an.« Die Lippen des Knaben zitterten, als er seinen Platz einnahm; sein älterer Bruder Philippe indessen bekundete nur Angst und vielleicht noch Abscheu vor dem, was er ringsum gewahrte; und die alte Comtesse umfaßte tröstend alle beide und grüßte zugleich zur anderen Seite hin die Comtesse de Chamillart und den Inquisitor, Pater Louvier, mit zwei jungen Geistlichen in feinen Gewändern.
Weitere wichtige Persönlichkeiten – oder doch eine ganze Sammlung von solchen, die sich selbst für wichtig erachteten – füllten rasch die restlichen Plätze auf der Empore, und wenn vorher noch irgendein Fenster am Platz geschlossen gewesen war, so standen jetzt alle offen und waren voll von eifrigen Gesichtern, und die unten auf dem Platz drängten sich so dicht an den Scheiterhaufen, daß ich mich unwillkürlich fragte, wie sie sich davor bewahren wollten, selbst verbrannt zu werden.
Endlich wurde das Portal von Saint-Michel aufgetan, und auf der Schwelle unter dem Rundbogen erschien der Pastor und irgendeine andere verachtungswürdige Amtsperson, der
Weitere Kostenlose Bücher