Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
Vom Netzwerk:
sein.«
    »Bedenke es nur. Stelle es dir vor. Du lernst durch Beobachtung. Nun, was hast du durch deine Beobachtung der Dinge hier gelernt? Ich könnte dir auf meinem Land ein Haus bauen, mit einer Bibliothek so groß, wie du sie haben willst. Du könntest deine Freunde aus Europa hier empfangen. Du könntest haben, was du willst.«
    »Ich brauche mehr als das, was du mir da bietest«, versetzte ich. »Selbst wenn ich einmal außer acht lassen könnte, daß du meine Tochter bist und daß wir außerhalb der Gesetze der Natur stehen mit dem, was wir tun.«
    »Welcher Gesetze denn?« höhnte sie.
    »Laß mich ausreden, und ich werde es dir sagen«, erklärte ich. »Ich brauche mehr als die Freuden des Fleisches, ja, mehr sogar als die Schönheit des Meeres und mehr als die Erfüllung eines jeden Wunsches. Ich brauche mehr als Geld.«
    »Warum?«
    »Weil ich Angst vor dem Tod habe«, sagte ich. »Ich glaube nichts, und deshalb muß ich, wie viele, die nichts glauben, mir etwas suchen, und dieses Etwas ist der Sinn, den ich meinem Leben gebe. Die Errettung der Hexen, das Studium des Übernatürlichen – das sind dauerhafte Freuden für mich; sie lassen mich vergessen, daß ich nicht weiß, warum wir geboren werden oder warum wir sterben oder warum es die Welt gibt. Wäre mein Vater nicht gestorben, wäre ich wohl Arzt geworden; ich hätte die Wirkungsweise des Körpers erforscht und wunderbare Zeichnungen von meinen Studien angefertigt, wie er es tat. Und hätte die Talamasca mich nach dem Tod meines Vaters nicht gefunden, wäre ich vielleicht Maler geworden, denn ein solcher bringt Welten von Sinn auf die Leinwand. Aber dies alles kann ich nicht mehr sein, weil ich es nicht gelernt habe und weil es zum Lernen jetzt zu spät ist; deshalb muß ich nach Europa zurück kehren und tun, was ich immer getan habe. Ich muß. Ich habe in dieser Frage keine Wahl. Ich würde dem Wahnsinn verfallen an diesem wilden Ort. Ich würde dich bald mehr hassen, als ich es jetzt schon tue.«
    Diese Worte fesselten sie sehr, wenn gleich sie sie auch verletzten und enttäuschten. Ihr Gesicht nahm einen Ausdruck von sanfter Tragik an, als sie mich betrachtete, und nie fühlte ich größere Zuneigung zu ihr als in diesem Augenblick.
    »Sprich mit mir«, bat sie. »Erzähle mir dein ganzes Leben.«
    »Das will ich nicht!«
    »Warum nicht?«
    »Weil du es willst, und weil du mich gegen meinen Willen festhältst.«
    Wieder dachte sie schweigend nach, und in ihrer Trauer waren ihre Augen wiederum wunderschön.
    »Du bist doch hergekommen, um mich umzustimmen und mich zu lehren, nicht wahr?«
    Ich lächelte, denn das stimmte. »Also gut, Tochter. Ich werde dir alles sagen, was ich weiß. Wird das seine Wirkung tun?«
    Und von diesem Augenblick an, mit meinem zweiten Tag in der Gefangenschaft, war alles anders – anders bis zu jener Stunde viele Tage später, da ich frei war. Ich wußte es noch nicht, aber es war anders.
    Denn von da an wehrte ich mich nicht mehr gegen sie. Ich wehrte mich nicht mehr gegen meine Liebe zu ihr und gegen meine Lust nach ihr, die sich nicht immer mischten, aber immer sehr lebendig waren.
    Was immer in den folgenden Tagen geschah, wir sprachen stundenlang miteinander, ich in meiner Trunkenheit, sie mit pointierter Nüchternheit, und die ganze Geschichte meines Lebens kam zum Vorschein, damit sie sie untersuchen und erörtern konnte, und überdies auch viel von dem, was ich über die Welt wußte.
    Da kam es mir so vor, als bestehe mein Leben aus nichts als Trunkenheit, den Liebesspielen und den Gesprächen mit ihr – und aus jenen langen Perioden, die ich in verträumter Betrachtung des sich wandelnden Meeres verbrachte.
    Unterdessen ließ sie feine Kleider für mich machen, und ihre Zofen mußten mich jeden Tag ankleiden, obgleich ich diesen Dingen inzwischen gleichgültig gegenüber stand, und in ähnlicher Gleichgültigkeit ließ ich mir von ihnen die Nägel schneiden und das Haar stutzen.
    Das erregte meinen Argwohn nicht; es waren ihre regelmäßigen, sorgfältigen Aufmerksamkeiten, und ich hatte mich an sie gewöhnt, aber dann zeigte sie mir eine Stoffpuppe, gemacht aus dem Hemd, das ich am Tag meiner Ankunft getragen hatte, und sie erklärte mir, daß in etlichen Knoten daran meine Fingernägel steckten und daß die Haare am Kopf der Puppe Haare von meinem Kopf seien.
    Ich war in diesem Augenblick besinnungslos betrunken, wie sie es zweifellos geplant hatte. Und schweigend sah ich zu, wie sie meinen Finger mit

Weitere Kostenlose Bücher