Hexenstunde
stapfte stur weiter geradeaus und sah nichts außer den Staub zu meinen Füßen.
Nicht lange, und ich sah Füße neben den meinen, nackt und blutig, aber ich kümmerte mich nicht darum, denn ich wußte, sie waren nicht wirklich vorhanden. Ich roch brennendes Fleisch, aber auch darum kümmerte ich mich nicht, denn ich wußte, es war alles nicht Wirklichkeit.
»Ich kenne dein Spielchen«, sagte ich. »Du hast geschworen, mir nichts anzutun, und nun hältst du dich an den Buchstaben deines Schwurs. Du möchtest mich in den Wahnsinn treiben, nicht wahr?« Dann aber erinnerte ich mich an die Regeln der Alten – daß ich ihn nur stärkte, indem ich mit ihm redete -, und so verstummte ich und begann, die alten Gebete aufzusagen.
Die Füße, die neben mir einhergegangen waren, verschwanden, und der Geruch von brennendem Fleisch ebenfalls. Aber weit vor mir hörte ich einen gespenstischen Lärm. Es war das Geräusch von splitterndem Holz, jawohl, von einer großen Menge zersplitternden Holzes, und vielleicht auch von Dingen, die aus der Erde gerissen wurden.
Das ist keine Illusion, dachte ich. Der Geist hat die Bäume entwurzelt und will sie mir nun in den Weg werfen.
Ich ging weiter, zuversichtlich, daß ich auch solchen Gefahren würde ausweichen können; ich schärfte mir ein, daß der Geist sein Spiel mit mir treiben wollte und daß ich ihm nicht in die Falle tappen durfte. Doch dann sah ich die Brücke vor mir, und ich erkannte, daß ich bei dem Flüßchen angelangt war. Der Lärm, den ich hörte, kam vom Friedhof! Das Wesen brach die Gräber auf!
Ein Grauen packte mich, das schlimmer war als jedes, das ich bisher empfunden hatte. Wir alle haben unsere persönlichen Ängste, Stefan. So mag ein Mann gegen Tiger kämpfen, aber vor dem Anblick eines kleinen Käfers die Flucht ergreifen; ein anderer haut sich seinen Weg durch ein Regiment von Feinden, aber mit einem einzigen Leichnam bleibt er keinen Augenblick in einem geschlossenen Zimmer.
Für mich waren die Orte der Toten immer mit besonderem Schrecken verbunden. Daß ich nun wußte, was der Geist hier vorhatte, und daß ich die Brücke überqueren und durch den Friedhof laufen mußte, ließ mich wie versteinert stehen bleiben, und der Schweiß troff an mir herab. Als nun das Splittern und Reißen immer lauter wurde und ich sah, wie die Bäume über den Gräbern schwankten, da wußte ich nicht, wie ich mich je wieder bewegen sollte.
Doch einfach stehen zu bleiben war Torheit. Ich zwang mich weiterzugehen und näherte mich Schritt für Schritt der Brücke. Dann erblickte ich den verwüsteten Friedhof; ich sah die Särge, die aus der weichen, feuchten Erde gerissen waren. Ich sah die Wesen, die aus ihnen herauskletterten – oder, besser gesagt, herausgezogen wurden, denn sie waren ja leblos, gewiß waren sie leblos, und er bewegte sie umher wie Marionetten!
»Petyr, lauf!« schrie ich und bemühte mich, meinem eigenen Befehl zu gehorchen.
Binnen eines Augenblicks überquerte ich die Brücke, doch dann sah ich sie zu beiden Seiten die Böschungen heraufkommen. Ich hörte sie! Ich hörte, wie die verrotteten Särge unter ihren Füßen zerbrachen. Illusion, Täuschung, sagte ich mir wiederum, aber als der erste dieser greulichen Kadaver mir in den Weg trat, da kreischte ich wie ein verängstigtes Weib: »Geh weg von mir!« Aber ich war außerstande, die verwesten Arme zu berühren, die mir entgegenwedelten, und taumelte nur vor dem Angreifer beiseite, um sogleich gegen einen zweiten fauligen Leichnam zu stolpern und schließlich auf die Knie zu fallen.
Ich betete, Stefan. Laut rief ich den Geist meines Vaters und Roemer Franz an: Bitte helft mir! Die Wesen hatten mich umzingelt und drangen auf mich ein; ihr Gestank war unerträglich, denn etliche waren frisch begraben und andere halb verwest, und wieder andere rochen nur noch nach Erde.
Und wieder rannte ich los, prallte gegen sie, stolperte über ihre Beine, sprang wie ein Tänzer vor und zurück, um mein Gleichgewicht wiederzufinden, und lief weiter. Schließlich riß ich mir den Rock herunter, um auf sie einzuschlagen, und ich stellte fest, daß sie kraftlos waren und keinen wirklichen Angriff gegen mich führen konnten; ich schlug sie mit meinem Rock zurück und entkam von dem Friedhof. Und wieder sank ich auf die Knie, um zu rasten.
Ich hörte sie immer noch hinter mir; ich hörte das ziellose Schlurfen ihrer toten Füße.
Und als ich über die Schulter zurückblickte, sah ich, daß sie sich mühten, mir
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