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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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ihr, daß ich verschwunden sei. Aber sorge dafür, daß Dein Brief nicht aus dem Mutterhaus kommt und daß keine Antwortadresse gebraucht wird, die dem Dämon ermöglichen könnte, unsere Mauern zu durch dringen.
    Schicke niemanden, ich beschwöre Dich, niemanden zu mir! Denn er würde ein schlimmeres Schicksal erleiden als ich.
    Bringe, was die weitere Geschichte dieser Frau angeht, aus anderen Quellen in Erfahrung, soviel Du kannst, und vergiß nicht: Das Kind, das sie in neun Monaten zur Welt bringt, ist ganz sicher das meinige.
    Was kann ich Dir sonst noch berichten?
    Nach meinem Tod werde ich versuchen, Dich oder Alexander zu erreichen, wenn derlei möglich ist. Doch ich fürchte, geliebter Freund, es gibt kein »Danach«. Ich fürchte, nur Dunkelheit harret meiner, und die Zeit im Licht geht für mich zu Ende.
    Ich fühle keine Reue in diesen letzten Stunden. Die Talamasca war mein Leben, und ich habe viele Jahre mit der Verteidigung der Unschuldigen und im reinen Streben nach Wissen verbracht. Ich liebe euch, meine Brüder und Schwestern. Behaltet mich im Gedächtnis – nicht um meiner Schwächen, meiner Sünden und meiner schlechten Urteilskraft willen, sondern weil ich euch liebte.
    Ach, laß mich noch erzählen, was eben passiert ist, denn es war in der Tat sehr interessant.
    Ich habe Roemer wiedergesehen, meinen geliebten Roemer, den ersten Direktor unseres Ordens, den ich gekannt und geliebt habe. Und Roemer sah so jung und stattlich aus, und ich war so froh, ihn zu sehen, daß ich weinte, und ich wollte, daß das Bild gar nicht mehr verschwände.
    Laß mich damit spielen, dachte ich, denn es kommt ja aus meinem Kopf, oder etwa nicht? Und der Dämon weiß nicht, was er tut. Also sprach ich mit Roemer. Ich sagte: »Mein liebster Roemer, du ahnst nicht, wie sehr du mir gefehlt hast. Wo bist du gewesen? Was gibt es Neues? Setze dich her, Roemer, und trinke mit mir.« Und er, mein geliebter Lehrer, setzt sich und lehnt sich an den Tisch, und er redet mich mit den widerwärtigsten Obszönitäten an – ah, solche Reden hast du noch nicht gehört – und erzählt, er wolle mir an Ort und Stelle in der Taverne die Kleider vom Leibe reißen und mir undenkbare Freuden schenken, wie er es schon immer habe tun wollen, als ich noch ein Knabe war – ja, daß er es sogar getan habe, in der Nacht: daß er in meine Kammer gekommen sei und daß er nachher darüber gelacht und die anderen habe zusehen lassen.
    Wie eine Statue muß ich dagesessen und diesem Monstrum ins Antlitz gestarrt haben, das mir da mit Roemers Lächeln diese Hurenreden zuwisperte, all diesen Schmutz; und dann schließlich hört der Mund der Kreatur auf, sich zu bewegen, und wird nur mehr größer und immer größer, und die Zunge darin wird zu einem schwarzen Ding, dick und glänzend wie der Buckel eines Wals.
    Wie eine Marionette greife ich nach meiner Feder, tauche sie ein und beginne mit der eben vollendeten Schilderung, und jetzt ist das Ding verschwunden.
    Aber weißt du, was es getan hat, Stefan? Es hat mein Herz von innen nach außen gekehrt. Ich muß dir ein Geheimnis verraten. Selbstverständlich hat mein geliebter Roemer sich niemals derartige Freiheiten bei mir herausgenommen. Aber ich betete damals, er möge es tun! Und der Dämon zog dies aus mir heraus: daß ich als Knabe in meinem Bett im Mutterhaus lag und träumte, daß Roemer kommen und die Decke beiseite ziehen und sich zu mir legen möge. So etwas träumte ich damals!
    Hättest du mich vor einem Jahr gefragt, ob ich je einen solchen Traum gehabt hätte, ich hätte gesagt: Niemals. Aber ich habe ihn gehabt, und der Dämon hat mir geholfen, mich zu erinnern. Sollte ich ihm dankbar sein?
    Vielleicht kann er mir meine Mutter zurück bringen, und sie und ich werden wieder vor dem Feuer in der Küche sitzen und singen.
    Ich gehe jetzt. Die Sonne ist vollends aufgegangen. Der Dämon ist nicht da. Ich werde diesen Brief unserem Agenten anvertrauen, bevor ich weiter nach Maye Faire gehe – das heißt, sofern die Wachmänner der Stadt mich nicht verhaften und ins Gefängnis werfen. Ich sehe wahrlich aus wie ein Vagabund und wie ein Verrückter dazu. Charlotte wird mir helfen. Charlotte wird diesen Dämon in seine Schranken rufen.
    Was gibt es noch zu sagen?
    Petyr
     
    ARCHIVNOTIZ:
    Dies war der letzte Brief von Petyr van Abel. Zwei Wochen nach seinem Eintreffen im Mutterhaus empfing man von Jan van Clausen, einem holländischen Kaufmann zu Port-au-Prince, die Nachricht, Petyr van Abel

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