Hexenstunde
nichts, daß sein Vater seinen Springer »mein Pferd« nannte. Sie spielten Schach. Und von jetzt an spielten sie oft.
Aber die große Zufallsentdeckung war nicht die, daß Michaels Vater Schach spielen konnte oder daß er die Gutherzigkeit besaß, ein so wunderschönes Spiel zu kaufen. Die große Zufallsentdeckung war die, daß Michael aus Büchern mehr als nur Geschichten herausholen konnte… daß sie ihn noch zu etwas anderem als diesem schmerzlichen Träumen und Sehnen führen konnten.
Danach wurde er in der Bibliothek kühner. Er sprach mit den Bibliothekarinnen hinter der Theke. Er lernte den »Themenkatalog« kennen. Und ziellos und besessen begann er ein ganzes Spektrum von Themen zu erforschen.
Das erste waren Autos. Er fand massenhaft Bücher über Autos in der Bibliothek. Er lernte alles über den Motor aus Büchern, alles über die verschiedenen Automarken, und er verblüffte Vater und Großvater mit seinem Wissen.
Als nächstes suchte er im Katalog alles über Brandbekämpfung und Feuer heraus. Er las Bücher über Feuerwehrautos und Leiterwagen und ihre Konstruktion, und er las alles über die großen Brände der Geschichte, über den Brand von Chicago und das Feuer in der Triangle Factory, und wieder konnte er über all das mit Vater und Großvater sprechen.
Michael war entzückt. Er spürte jetzt, daß er eine große Macht besaß. Und er begann mit seiner geheimen Liste, die er niemandem anvertraute. Musik war sein erstes geheimes Thema.
Er wählte zunächst die am kindlichsten aufgemachten Bücher – das Thema war schwierig – und ging dann zu den illustrierten Geschichten für junge Erwachsene über, aus denen er alles über das Wunderkind Mozart und den armen tauben Beethoven und den verrückten Paganini erfuhr, der angeblich seine Seele an den Teufel verkauft hatte. Er lernte die Definition von Symphonie und Concerto und Sonate. Er lernte das Notensystem kennen, Viertelnoten, halbe Noten, Dur und Moll. Er lernte die Namen der Orchesterinstrumente.
Dann nahm er sich Architektur vor. Und im Handumdrehen wußte er, was »Creek Revival« war, was »Italianato« und was »spätviktorianisch«, und worin sich diese verschiedenen Bauformen unterschieden. Er lernte korinthische und dorische Säulen zu erkennen, Arkadenhäuser und Peristyle zur Kenntnis zu nehmen. Mit seinen neuen Kenntnissen durchstreifte er den Garden District, und seine Liebe zu dem, was er hier sah, vertiefte und verstärkte sich in aller Stille.
Ah, mit all dem hatte er das große Los gezogen. Es gab keinen Grund mehr, in Ratlosigkeit zu verharren. Er konnte alles »nachlesen«. An den Samstagnachmittagen las er dutzendweise Bücher über Kunst, Architektur, griechische Mythologie, Naturwissenschaft. Er las sogar Bücher über moderne Malerei, über Oper und Ballett, was ihn schamhaft befürchten ließ, sein Vater könne ihn unversehens dabei ertappen und sich über ihn lustig machen.
Das dritte Ereignis in diesem Jahr war ein Konzert in der städtischen Konzerthalle. Michaels Vater arbeitete wie viele andere Feuerwehrleute in seiner Freizeit in Nebenjobs, und in jenem Jahr hatte er den Verkaufsstand in der Konzerthalle, wo er Sodawasser in Flaschen verkaufte. Eines Abends begleitete Michael ihn, um ihm zu helfen. Es war während der Schulzeit, und er hätte gar nicht mitgehen dürfen, aber er wollte es so gern. Er wollte die Konzerthalle sehen und wissen, was dort vor sich ging, und seine Mutter willigte ein.
In der ersten Hälfte des Programms – vor der Pause, in der er seinem Vater helfen würde und nach der sie einpacken und nach Hause fahren würden – ging Michael in den Saal, nach ganz oben, wo die Sitze leer waren, und dort setzte er sich hin und wartete ab, um zu sehen, wie das Konzert sein würde. Es erinnerte ihn an die Studenten in dem Film Die roten Schuhe, die Studenten in der Loge, die dort oben so erwartungsvoll saßen. Und richtig, der Saal füllte sich mit wunderschön gekleideten Leuten – aus den Wohnvierteln von New Orleans -, und das Orchester versammelte sich im Graben und stimmte die Instrumente. Sogar der seltsame, dünne Mann aus der First Street war da; Michael sah ihn einen Moment lang tief unter sich, das Gesicht aufwärtsgewandt, als könne er Michael tatsächlich ganz oben in der obersten Reihe sitzen sehen.
Was dann folgte, war hinreißend. Isaac Stern, der große Violinist, spielte an jenem Abend Beethovens Konzert für Violine und Orchester, eine Musik von gewaltiger Schönheit und
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