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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Julien war da bereits teilweise gelähmt, aber er konnte immer noch jeden Tag eine oder zwei Stunden in seinem Büro sitzen.
    Llewellyn lieferte eine lebendige Beschreibung Juliens aus der Zeit um 1900; er beschrieb ihn als dünnen Mann, der ein wenig von seiner Größe eingebüßt hatte, aber im großen und ganzen immer noch elastisch und energisch war, strotzend von guter Laune und voller Phantasie.
    Llewellyn berichtete offen, daß Julien ihn in die erotischen Geheimnisse des Lebens eingeführt habe. Er hatte ihm nicht nur beigebracht, wie man ein aufmerksamer Liebhaber ist, sondern den jungen Mann auch nach Storyville geführt – in den berüchtigten Rotlichtbezirk von New Orleans -, wo er mit ihm in etliche der besseren unter den dort betriebenen Häusern gegangen war.
    Aber wir wollen unmittelbar zu seinem Bericht übergehen.
    »Oh, die Tricks, die er mir beibrachte«, sagte Llewellyn, als er von ihrer amourösen Beziehung sprach, »und was für einen Humor er hatte. Es war, als sei die ganze Welt ein Witz für ihn, und es lag nie die leiseste Bitterkeit darin. Ich will Ihnen etwas sehr Privates über ihn erzählen. Er hat mit mir geschlafen, als wäre ich eine Frau. Wenn Sie nicht wissen, was ich meine, hat es keinen Sinn, es zu erklären. Und diese Stimme, sein französischer Akzent… Ich sage Ihnen, wenn er anfing, mir ins Ohr zu flüstern…
    Er erzählte mir die ulkigsten Geschichten über seine Späße mit seinen anderen Liebhabern – wie er die ganze Welt genarrt hatte und wie einer von seinen Knaben – Aleister hieß er – sich als Frau verkleidete und mit Julien in die Oper ging, ohne daß irgend jemand auch nur den leisesten Verdacht schöpfte. Julien versuchte, auch mich dazu zu überreden, aber ich sagte, ich könnte das niemals durchhalten, niemals! Er hatte Verständnis dafür. Er war extrem gutmütig. Ja, es war unmöglich, ihn in einen Streit zu verwickeln. Er sagte, das alles habe er hinter sich, und überdies sei sein Zorn schrecklich, und er könne es nicht mehr ertragen, wenn er in Wut gerate. Es strenge ihn zu sehr an.
    Ein einziges Mal war ich ihm untreu, und als ich nach zwei Tagen zurück kam, erwartete ich einen schrecklichen Krach, aber er behandelte mich mit – ja, wie soll man es nennen? Mit nachdenklicher Warmherzigkeit. Wie sich herausstellte, wußte er alles: was ich getan hatte, und mit wem. Und auf überaus freundliche, aufrichtige Art fragte er mich, weshalb ich ein solcher Narr gewesen sei. Es war regelrecht gespenstisch. Schließlich brach ich in Tränen aus und erklärte, ich hätte meine Unabhängigkeit zeigen wollen.
    Das akzeptierte er mit einem Lächeln. Er tätschelte mir die Schulter und sagte, ich solle mir nicht weiter den Kopf zerbrechen. Ich sage Ihnen, das kurierte mich für alle Zeit vom Streunen! Es machte überhaupt keinen Spaß, mich so gräßlich zu fühlen und ihn dabei so ruhig und ergeben zu sehen. Dabei habe ich das eine oder andere gelernt, wahrhaftig.
    Und dann fing er an zu erzählen, daß er Gedankenleser sei und daß er sehen könne, was an anderen Orten vor sich gehe. Er sprach viel darüber. Ich wußte nie, ob er es ernst meinte oder ob es wieder einer von seinen Spaßen war. Er hatte so hübsche Augen. Er war ein sehr gutaussehender alter Mann. Und seine Art, sich zu kleiden, hatte etwas Auffallendes. Vermutlich könnte man sagen, er war so etwas wie ein Dandy. Wenn er sich schick gemacht hatte, in einem feinen weißen Leinenanzug mit gelber Seidenweste und einem weißen Panamahut, dann sah er wirklich prächtig aus.
    Ich glaube, ich imitiere ihn bis zum heutigen Tag. Ist das nicht traurig? Ich laufe herum und versuche, auszusehen wie Julien Mayfair.
    Ach, aber dabei fällt mir ein – er hat einmal etwas überaus Merkwürdiges getan, um mich zu erschrecken! Und bis heute weiß ich eigentlich nicht, was da genau passiert ist. Wir hatten uns am Abend vorher darüber unterhalten, wie Julien als junger Mann ausgesehen hatte und wie gut er auf all den Fotos aussah – und, wissen Sie, es war als habe man eine Geschichte der Fotografie vor sich, wenn man das alles studierte. Die ersten Bilder von ihm waren Daguerreotypien, später gab es dann echte Fotos in Sepia auf Karton und schließlich die Schwarzweißbilder, die wir heute kennen. Jedenfalls hatte er mir einen Stapel davon gezeigt, und ich hatte gesagt: ›Oh, ich wünschte, ich hätte dich gekannt, als du jung warst; ich glaube, du warst wirklich schön.‹ Dann brach ich ab. Ich schämte

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