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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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DES RICHARD LLEWELLYN
    Richard Llewellyn ist der einzige Beobachter Juliens, der je von einem Mitglied des Ordens persönlich interviewt werden konnte, und er war mehr als ein beiläufiger Beobachter. Was er – über andere Familienmitglieder ebenso wie über Julien – zu sagen hatte, läßt sein Zeugnis für uns von besonderem Interesse sein, obgleich es großenteils unbestätigt ist. Er hat uns einige der intimsten Einblicke in die Familie Mayfair vermittelt, die uns möglich waren.
    Wir halten es daher für lohnend, unsere Rekonstruktion seiner Worte zur Gänze wiederzugeben.
    Richard Llewellyn kam 1900 mit zwanzig Jahren nach New Orleans und trat eine Stellung bei Julien an, wie es Victor einst getan hatte, denn Julien hatte trotz seiner zweiundsiebzig Jahre immer noch ein ungeheures Interesse am Handel, an der Baumwollfabrikation, am Immobilien- und am Bankgeschäft. Bis in die Woche seines Todes – vierzehn Jahre später – hielt Julien seine regelmäßigen Bürostunden in der Bibliothek in der First Street ein.
    Llewellyn arbeitete für Julien bis zu dessen Tod, und 1958, als ich meine Ermittlungen auf dem Gebiet der Mayfair-Hexen begann, bekannte er mir gegenüber ganz offen, daß er Juliens Geliebter gewesen sei.
    1958 war Llewellyn über siebenundsiebzig Jahre alt. Er war ein mittelgroßer Mann von gesunder Gestalt und hatte lockiges schwarzes Haar, das von dicken grauen Strähnen durchzogen war, und sehr große, leicht vorquellende blaue Augen. Er besaß einen antiquarischen Buchladen in der Chartres Street im French Quarter, der auf Bücher über Musik, speziell über Opern, spezialisiert war. Im Laden spielten ständig phonographische Aufnahmen von Caruso, und Llewellyn, der unweigerlich an einem Pult im hinteren Teil saß, trug stets Anzug und Krawatte.
    Eine Erbschaft von Julien hatte es ihm ermöglicht, Eigentümer des Gebäudes zu werden; im ersten Stock hatte er auch seine Wohnung, und er arbeitete in seinem Laden bis einen Monat vor seinem Tod im Jahr 1959.
    Ich habe ihn im Sommer 1958 mehrmals besucht, aber nur einmal konnte ich ihn zu einer längeren Erzählung bewegen, und ich muß gestehen, daß der Wein, den er bei dieser Gelegenheit auf meine Einladung hin trank, damit viel zu tun hatte. Natürlich habe ich diese Methode – Essen, Wein und nochmals Wein – schamlos bei zahlreichen Mayfair-Zeugen verwandt; anscheinend funktioniert sie besonders gut in New Orleans und im Sommer.
    Zu einer ganz und gar »zufälligen« Begegnung mit Llewellyn kam es, als ich eines Nachmittags im Juli in seine Buchhandlung spazierte und wir über die großen Kastratensänger der Oper ins Gespräch kamen – vor allem über Farinelli. Es war nicht schwierig, Llewellyn zu überreden, sein Geschäft um halb drei zu einer karibischen Siesta zu schließen und mit mir auf einen späten Lunch zu »Galatoire’s« zu gehen.
    Eine ganze Weile brachte ich das Gespräch nicht auf die Familie Mayfair, und dann auch nur zögernd und im Zusammenhang mit dem alten Haus in der First Street. Ich gestand offen, daß ich mich für das Haus und für die Leute, die dort lebten, interessierte. Llewellyn war zu diesem Zeitpunkt schon angenehm »besäuselt« und begann sogleich mit Erinnerungsgeschichten über seine ersten Tage in New Orleans.
    Über Julien wollte er zunächst nichts sagen, aber dann sprach er von ihm, als wüßte ich alles über den Mann. Ich steuerte mehrere wohlbekannte Daten und Fakten bei, und das trieb die Konversation munter voran. Wir verließen »Galatoire’s« schließlich und wechselten in ein kleines, stilles Café in der Bourbon Street hinüber, wo wir unser Gespräch bis gegen halb neun abends fortsetzten.
    Als ich wieder in meinem Hotel war, versuchte ich das Gespräch, so gut es ging, zu rekonstruieren, und ich bemühte mich auch, Llewellyns spezielle Ausdrucksweise festzuhalten. Aber es ist gleichwohl eine Rekonstruktion. Abschließend möchte ich sagen, daß ich seine Äußerungen in ihrer Substanz für zutreffend halte.
    Von Beginn an war Llewellyn aus tiefstem Herzen verliebt in Julien, und einer der frühen Schocks in seinem Leben bestand in der Entdeckung, daß Julien mindestens zehn bis fünfzehn Jahre älter war, als er gedacht hatte; er erfuhr das erst, als Julien Anfang 1914 seinen ersten Schlaganfall erlitt. Bis dahin war Julien ein ziemlich romantischer und kraftvoller Liebhaber für Llewellyn gewesen, und Llewellyn blieb dann bei Julien bis zu dessen Tod etwa vier Monate später.

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