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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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hereinfahren.
    Julien küßte, davon völlig unberührt und mit Tränen in den Augen, die tote Marguerite und drückte ihr die Augen zu. Dann nahm er ihr die Puppe ab und schob sie in seine Rocktasche.
    Als der Priester schüchtern nachfragte, ob man nicht vielleicht das Fenster schließen könne, sagte Julien ihm, der Himmel weine um Marguerite, und es sei respektlos, wollte man das Fenster schließen. Dann schlug er die geweihten Kerzen von dem katholischen Altar neben dem Totenbett, was bei dem Priester Anstoß erregte. Katherine erschrak ebenfalls.
    Der Priester verließ schließlich das Haus, und nach wenigen hundert Schritten stellte er fest, daß es nicht mehr regnete und daß es auch nicht mehr windig war. Er stieß auf Clay, der vor dem Holzzaun am Rande der Plantage auf einem weißen, geraden Stuhl saß; er rauchte und beobachtete das ferne Unwetter, das im Dunkeln deutlich sichtbar tobte. Der Priester grüßte Clay, aber Clay schien ihn nicht zu hören.
    Es gibt noch viele andere Geschichten über Julien, von denen im Laufe der Erzählung über Mary Beth zu berichten sein wird.
    Aber wir sollten nicht zu Mary Beth übergehen, ohne noch einen letzten Aspekt von Juliens Person zu behandeln; nämlich seine Bisexualität. Wie oben schon erwähnt, wurde Julien in sehr jungen Jahren im Zusammenhang mit einem Verbrechen »wider die Natur« genannt, woraufhin er – versehentlich oder absichtlich – einen seiner Onkel tötete. Erwähnung findet auch ein männlicher Gefährte im French Quarter in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts.
    Solche Gefährten sollte Julien sein Leben lang haben, aber über die meisten wissen wir nichts.
    Zwei von denen, über die wir doch Aufzeichnungen besitzen, sind ein Viertelneger namens Victor Gregoire und ein Engländer namens Richard Llewellyn.
    Victor Gregoire arbeitete in den achtziger Jahren für Julien als eine Art Privatsekretär und sogar als Kammerdiener. Er wohnte im Dienstbotenquartier in der First Street, und er war ein bemerkenswert gutaussehender Mann – wie alle Freunde Juliens, männlich oder weiblich. Und man munkelte, er sei ein Mayfair-Sproß.
    Jedenfalls wurde Victor von Julien sehr geliebt, aber die beiden hatten um das Jahr 1885, etwa zur Zeit von Suzettes Tod, einen Streit. Der einzige, etwas dünne Bericht über diesen Streit, der uns vorliegt, deutet an, Victor habe Julien vorgeworfen, Suzette in ihren letzten Krankheitstagen nicht mit hinreichendem Mitgefühl behandelt zu haben. Julien habe Victor daraufhin voller Empörung heftig verprügelt. Die Verwandten wiederholten diese Geschichte innerhalb der Familie so oft, daß auch Außenseiter Gelegenheit hatten, sie zu hören.
    Anscheinend war man allgemein der Ansicht, daß Victor vermutlich recht habe, und da er Juliens überaus treuer Diener sei, habe er auch das Recht des Dieners, seinem Herrn die Wahrheit zu sagen. Jeder wußte zu jener Zeit, daß niemand Julien näherstand als Victor und daß Victor alles für Julien tat.
    Es gibt indessen, wie man hinzufügen sollte, deutliche Hinweise darauf, daß Julien Suzette sehr wohl geliebt hat, so enttäuscht er auch von ihr sein mochte, und daß er gut für sie sorgte. Seine Söhne glaubten jedenfalls, daß er ihre Mutter liebe, und bei Suzettes Beerdigung war Julien betrübt. Noch Stunden später tröstete er Suzettes Eltern, und er nahm sich von allen geschäftlichen Verpflichtungen Urlaub, um bei seiner Tochter Jeannette sein zu können, die sich vom Tod ihrer Mutter »nie erholt« hat.
    Nachkommen von Suzettes Geschwistern sagen heute, daß »Großtante Suzette«, die früher in der First Street gewohnt habe, tatsächlich von ihrem Mann Julien in den Wahnsinn getrieben worden sei – er sei pervers, grausam und auf eine Weise bösartig gewesen, die eine angeborene Geisteskrankheit vermuten lasse. Aber solche Äußerungen sind vage und entbehren aller wirklichen Kenntnisse über jene Periode.
    Um mit Victors Geschichte fortzufahren: Der junge Mann starb auf tragische Weise, während Julien und Mary Beth in Europa waren. Als er eines Abends durch den Garden District nach Hause ging, geriet er einer schnellfahrenden Kutsche in den Weg. Bei dem darauffolgenden Sturz erlitt er einen schweren Schlag gegen den Kopf. Zwei Tage später erlag er seinen schweren Hirnverletzungen. Julien erfuhr die Nachricht bei seiner Rückkehr nach New Orleans. Er ließ ein wunderschönes Denkmal für Victor auf dem Friedhof Nr. 3 in New Orleans errichten.
     
    DIE AUSSAGE

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