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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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den letzten Monaten so eiskalt zu Mary Beth war – da standen einem schon die Haare zu Berge.
    Das muß man sich vorstellen: Eine Tochter ist eiskalt zu ihrer Mutter, die so stirbt. Aber Mary Beth merkte es nicht. Sie lag nur da, voller Schmerzen, halb im Traum, sagte Stella, und ohne zu wissen, wo sie war; manchmal redete sie laut mit Julien, als könnte sie ihn im Zimmer sehen. Und natürlich war Stella Tag und Nacht bei ihr; dessen können Sie sicher sein, denn Mary Beth hat Stella geliebt.
    Ja, Mary Beth hat mir einmal erzählt, von ihr aus könne man alle ihre anderen Kinder in einen Sack stecken und in den Mississippi werfen. Stella war die einzige, auf die es ihr ankam. Natürlich war das ein Scherz. Sie war niemals gemein zu den anderen Kindern. Ich erinnere mich, wie sie Lionel stundenlang vorlas, als er klein war, und wie sie ihm mit der Schule half. Sie besorgte ihm die besten Lehrer, als er nicht zur Schule gehen wollte. Keines der Kinder war gut in der Schule – außer natürlich Carlotta. Stella flog von drei verschiedenen Schulen, glaube ich. Carlotta war die einzige, die wirklich gut war – und was hat es ihr genützt?
    Aber wo war ich? Ach ja. Manchmal hatte ich das Gefühl, ich gehöre nicht in das Haus. Und dann ging ich aus. Ich ging ins French Quarter. Das war die Zeit von Storyville, wissen Sie, als die Prostitution hier noch legal war. Julien hatte mich selbst einmal abends zu Lulu Whites »Mahogany Hall« mitgenommen, und auch in die anderen Nobelhäuser, und ihm war es ziemlich egal, wenn ich allein hinging.
    Tja, und an diesem Abend sagte ich, ich gehe. Und Julien hatte nichts dagegen. Er hatte es sich oben im zweiten Stock in seinem Schlafzimmer gemütlich gemacht, mit seinen Büchern und seiner heißen Schokolade und seiner Pianola. Außerdem wußte er, daß ich nur gucken ging. Und so ging ich also und schlenderte an all den kleinen Häuschen vorbei, wo die Mädchen vor der Haustür standen und mir winkten, hereinzukommen. Aber natürlich hatte ich nicht die leiseste Absicht, das zu tun.
    Und dann erblickte ich diesen wunderschönen jungen Mann. Ich meine, es war einfach ein wunderschöner junger Mann. Er stand in einer der Seitengassen dort unten und lehnte mit verschränkten Armen an der Hauswand, und er sah mich an. ›Bon soir, Richard‹, sagte er, und ich erkannte die Stimme mit dem französischen Akzent sofort: Es war Juliens Stimme. Und ich sah, daß der Mann Julien war! Aber er konnte nicht älter als zwanzig sein! Ich sage Ihnen, noch nie war ich so erschrocken. Ich hätte fast aufgeschrien. Es war schlimmer als ein Gespenst. Und dann war der Kerl fort, einfach so, verschwunden.
    Ich konnte nicht schnell genug eine Droschke auftreiben und schnurstracks nach Hause in die First Street fahren. Julien öffnete mir die Haustür. Er trug seinen Hausmantel, paffte seine gräßliche Pfeife und lachte. ›Ich habe dir doch gesagt, ich zeige dir, wie ich mit zwanzig aussah‹, sagte er, und er lachte und hörte nicht mehr auf zu lachen.
    Ich weiß noch, daß ich ihm in den Salon folgte. Das war damals ein so reizendes Zimmer, ganz anders als heute – Sie hätten es sehen sollen. Absolut wundervolle französische Stücke, überwiegend Louis Cinque, die Julien persönlich in Europa gekauft hatte, als er mit Mary Beth drüben gewesen war. So leicht und elegant, einfach entzückend. Diese Art-Deco-Möblierung war Stellas Sache gewesen. Sie hielt es für den letzten Schrei, diese Topfpalmen überall! Das einzige gute Möbelstück war das Bösendorfer-Klavier. Die Wohnung sah völlig verrückt aus, als ich zur Beerdigung hinkam, und Sie wissen natürlich, daß die Totenfeier für Stella daheim abgehalten wurde. Eine Begräbnishalle kam nicht in Frage für Stella. Ja, sie lag vorn genau in dem Zimmer aufgebahrt, in dem sie erschossen worden war – wußten Sie das? Aber was wollte ich sagen?
    Ach ja, dieser unglaubliche Abend. Eben hatte ich Julien in der Stadt gesehen, den wunderschönen jungen Julien, der mich auf französisch angesprochen hatte, und dann war ich wieder zu Hause und folgte dem alten Julien in den Salon, und er setzte sich dort auf die Couch, streckte die Beine von sich und sagte: ›Ach, Richard, es gibt so vieles, was ich dir erzählen, so vieles, was ich dir zeigen könnte. Aber jetzt bin ich alt. Und was soll es auch? Ein prächtiger Trost des Alters ist, daß man nicht mehr verstanden zu werden braucht. Mit der unvermeidlichen Verhärtung der Arterien setzt eine Art

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