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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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schlichter Beredsamkeit, wie Michael sie noch nie gehört hatte. Keinen Augenblick lang fühlte er sich ausgeschlossen oder gelangweilt.
    Lange nachdem das Konzert vorüber war, konnte er die Leitmelodie noch pfeifen und sich dabei an den mächtigen, süßen, sinnlichen Klang des ganzen Orchesters und an die feinen, herzzerreißenden Klänge von Isaac Sterns Violine erinnern.
    Aber die Sehnsucht, die dieses Erlebnis in ihm weckte, vergiftete Michaels Leben. Ja, in den darauffolgenden Tagen verspürte er womöglich die schlimmste Unzufriedenheit mit dieser Welt, die er je gehabt hatte, auch wenn er es sich von niemandem anmerken ließ. Er bewahrte dieses Gefühl in sich, wie er auch seine Kenntnisse der Themen, die er in der Bibliothek studierte, geheimhielt. Er fürchtete sich vor dem Snobismus, der in ihm wuchs, vor dem Abscheu, den er gegen die, die er liebte, verspüren würde, wenn er diesem Gefühl nachgeben würde.
    Und Michael hätte es nicht ertragen, seine Familie nicht zu lieben. Er hätte es nicht ertragen, sich ihrer zu schämen. Die Kleinlichkeit und Undankbarkeit, die darin läge, hätte er nicht ertragen. Oder seine Mutter, die eine verlorene Seele war, dort unten im Irish Channel, eine Frau, die besser sprach und sich besser kleidete als die Frauen in ihrer Umgebung, die immer wieder darum bettelte, als Verkäuferin im Kaufhaus arbeiten zu dürfen, und immer wieder ein Nein zur Antwort bekam. Eine Frau, die für ihre Romane lebte, die sie spät abends las – Bücher von John Dickson Carr und Daphne du Maurier und Frances Parkinson Keyes -, allein auf der Couch im Wohnzimmer, wegen der Hitze nur mit einem Slip bekleidet, wenn alle anderen schliefen, und die dabei langsam und vorsichtig Wein aus einer in braunes Papier gewickelten Flasche trank.
    Es gab eine Geschichte über seine Mutter und seinen Vater, aber Michael wußte nie, ob sie stimmte. Seine Eltern hatten sich in San Francisco ineinander verliebt, kurz vor Kriegsende, als sein Vater bei der Marine gewesen war, und sein Vater hatte sehr gut ausgesehen in seiner Uniform, und damals hatte er den Charme gehabt, der alle Mädchen anlockte.
    »Er sah aus wie du, Mike«, sagte seine Tante Jahre später. »Schwarzes Haar, blaue Augen und diese kräftigen Arme – genau wie du. Und du erinnerst dich ja an die Stimme deines Vaters; es war eine schöne Stimme, irgend wie tief und weich. Selbst mit diesem Irish-Channel-Akzent.«
    Und so hatte es Michaels Mutter »heftig erwischt«, und als sein Vater wieder nach Übersee verschwunden war, hatte er Michaels Mutter wunderbar poetische Briefe geschickt und sie umworben, daß es ihr schier das Herz gebrochen hatte. Aber Michaels Vater hatte diese Briefe gar nicht geschrieben. Sein bester Freund beim Militär hatte sie geschrieben, ein gebildeter Mann, der auf demselben Schiff gefahren war – er hatte die Metaphern und die Zitate aus allerlei Büchern zusammengetragen. Und Michaels Mutter hatte nie Verdacht geschöpft.
    Michaels Mutter hatte sich tatsächlich in diese Briefe verliebt. Und als sie gemerkt hatte, daß sie mit Michael schwanger war, hatte sie sich im Vertrauen auf diese Briefe gen Süden begeben und war sogleich von der einfachen, gutherzigen Familie aufgenommen worden; unverzüglich hatte man die Vorbereitungen zur Hochzeit in der St.-Alphonsus-Kirche getroffen, damit alles seine Ordnung hatte, sobald Michaels Vater Urlaub bekommen konnte.
    Was für ein Schock mußte es für sie gewesen sein: die kleine, baumlose Straße, das winzige Haus, wo ein Zimmer ins andere überging, die Schwiegermutter, die ihre Männer von vorn bis hinten bediente und beim Abendessen nicht einmal mit am Tisch saß.
    Michaels Tante sagte, sein Vater habe seiner Mutter die Geschichte mit den Briefen gestanden, als Michael noch ein Baby gewesen sei, und da sei Michaels Mutter wild geworden und habe versucht, ihn umzubringen, und sie habe sämtliche Briefe im Hof verbrannt. Dann aber habe sie sich beruhigt und sich bemüht, es zu versuchen. Hier war sie nun und hatte ein kleines Kind. Sie war über dreißig. Ihre Eltern waren tot; sie hatte nur eine Schwester und einen Bruder in San Francisco, und ihr blieb nichts anderes übrig, als bei dem Vater ihres Kindes zu bleiben, und außerdem waren die Currys keine üblen Leute.
    Vor allem ihre Schwiegermutter hatte sie geliebt, weil die sie aufgenommen hatte, als sie schwanger gewesen war. Und dieser Teil der Geschichte – die Liebe zwischen den beiden Frauen – entsprach

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