Hexenstunde
geantwortet. Haben Sie das Wesen auch gesehen, als es unmittelbar vor mir stand, gleich hinter dem Zaun? Haben Sie ihn gesehen, oder haben Sie ihn nicht gesehen?«
Aaron öffnete die Tür. Er zögerte, doch dann sagte er: »Ja, Michael. Ich habe ihn gesehen. Klarer und deutlicher als je zuvor. Und er hat Sie angelächelt. Es schien sogar, als… als strecke er die Hand nach Ihnen aus. Nach dem, was ich gesehen habe, würde ich sagen, er hat Sie willkommen geheißen. Aber jetzt muß ich gehen, und Sie müssen schlafen. Wir unterhalten uns morgen.«
»Moment noch.«
»Licht aus, Michael.«
Das Telefon weckte ihn. Die Sonne strahlte durch die Fenster zu beiden Seiten des Kopfendes herein. Einen Moment lang war er völlig verwirrt. Gerade hatte Rowan mit ihm gesprochen; sie hatte gesagt, wie sehr sie sich wünschte, daß er da wäre, ehe sie den Deckel schlossen. Was für einen Deckel? Er sah eine tote weiße Hand auf schwarzer Seide liegen.
Dann setzte er sich auf, und er sah den Schreibtisch und den Aktenkoffer und die Mappen, die sich dort türmten, und er flüsterte: »Den Deckel am Sarg ihrer Mutter.«
Schlaftrunken starrte er das klingelnde Telephon an. Dann nahm er den Hörer ab. Es war Aaron.
»Kommen Sie frühstücken, Michael.«
»Sitzt sie schon im Flugzeug, Aaron?«
»Sie hat eben die Klinik verlassen. Ich glaube, ich habe es Ihnen schon gestern abend gesagt; sie wird kaum vor zwei Uhr im Hotel sein. Die Beerdigung beginnt um drei. Hören Sie, wenn Sie nicht herunter kommen wollen, schicken wir Ihnen etwas hinauf; aber essen müssen Sie.«
»Ja, schicken Sie was rauf«, sagte Michael. »Und – Aaron? Wo ist diese Beerdigungsfeier?«
»Bei Lonigan und Söhne. In der Magazine Street.«
»Ach ja. Diesen Laden kenne ich…« Großmutter, Großvater, und auch sein Vater – alle von Lonigan und Söhne unter die Erde gebracht. »Keine Sorge, Aaron. Ich bleibe hier. Kommen Sie herauf und leisten Sie mir Gesellschaft, wenn Sie wollen. Aber ich muß jetzt weitermachen.«
Er duschte rasch, zog frische Wäsche an, und als er aus dem Bad kam, erwartete ihn bereits sein Frühstück unter etlichen hochglanzpolierten Silberkuppeln auf einem mit Spitze gedeckten Tablett. Die alten Sandwiches waren abgeräumt worden. Das Bett war gemacht. Am Fenster standen frische Blumen. Er lächelte und schüttelte den Kopf. Einen Augenblick lang sah er Petyr van Abel vor sich, in seiner hübschen kleinen Kammer im Mutterhaus in Amsterdam, im siebzehnten Jahrhundert. War er jetzt auch ein Mitglied? Würden sie ihm auch diesen Schutz und diese Sicherheit gewähren, die so viele vor ihm schon erfahren hatten? Und was würde Rowan davon halten? Es gab so vieles, was er Aaron über Rowan erklären mußte…
Geistesabwesend trank er seine erste Tasse Kaffee, und dann klappte er die nächste Akte auf und begann zu lesen.
18
Es war halb sechs in der Frühe, als Rowan endlich zum Flughafen fuhr. Slattery fuhr den Jaguar für sie; ihre Augen waren glasig und rot, als sie instinktiv und unruhig den Verkehr beobachtete; es war ihr unbehaglich, das Steuer des Wagens jemand anderem zu überlassen. Aber Slattery hatte sich bereit erklärt, den Jaguar in ihrer Abwesenheit zu übernehmen, und sie dachte sich, es wäre gut, wenn er sich daran gewöhnte. Außerdem wollte sie lieber jetzt als nachher in New Orleans sein. Zum Teufel mit allem anderen.
Der letzte Abend in der Klinik war fast nach Plan verlaufen. Stundenlang hatte sie mit Slattery die Runde gemacht, hatte ihn Patienten, Schwestern und Ärzten vorgestellt und getan, was sie konnte, um den Wechsel für alle Beteiligten möglichst schmerzlos vonstatten gehen zu lassen. Leicht war es nicht gewesen. Slattery war unsicher und mißgünstig. Im Herzen hegte er eine tiefe Unbarmherzigkeit gegen alle, die er für geringer hielt als sich. Aber er war viel zu ehrgeizig, um ein schlechter Arzt zu sein. Er war sorgfältig und clever.
So sehr es Rowan mißfiel, ihm alles zu überlassen, sie war doch froh, daß er da war. Immer stärker wurde das Gefühl in ihr, daß sie nicht wieder herkommen würde. Sie sagte sich immer wieder, es gebe keinen Grund für ein solches Gefühl, aber sie konnte es einfach nicht abschütteln. Ihr spezieller Sinn befahl ihr, Slattery darauf vorzubereiten, daß er ihre Arbeit auf unbegrenzte Zeit übernehmen konnte – und das tat sie auch.
Um elf, als sie zum Flughafen hätte fahren müssen, begann einer ihrer Patienten – ein Aneurysma –
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