Hexenstunde
es ist toll!) »Natürlich werde ich Lark in so einem Fall beizeiten Bescheid geben, und es ist natürlich noch nicht offiziell…«
»Natürlich.«
»Aber hängen Sie ruhig schon Ihre Bilder auf«, fuhr sie fort. »Und viel Spaß mit dem Auto. Ich schätze, ich werde es früher oder später abholen lassen, aber wahrscheinlich eher später.« Und mit einem unverbindlichen Winken ging sie auf die Glastür zu.
Die köstliche Erregung flutete wie Sonnenlicht über sie hinweg. Trotz roter Augen und schwerer Müdigkeit fühlte sie eine starke Schwungkraft in sich. Am Ticketschalter verlangte sie Erste Klasse, einfach.
Sie schlenderte in die Geschenkboutique, um sich eine große dunkle Sonnenbrille zu kaufen, die ihr höchst glamourös erschien, und ein Buch zum Lesen nahm sie auch noch mit – eine absurde Männerphantasie, die von unmöglicher Spionage und unerschütterlichem Wagemut handelte und die ihr ebenfalls ein bißchen glamourös vorkam.
Die New York Times behauptete, es sei heiß in New Orleans. Gut, daß sie das weiße Leinenkleid angezogen hatte, und hübsch fühlte sie sich darin außerdem. Für ein paar Augenblicke trödelte sie im Waschraum herum, bürstete sich das Haar und hantierte sorgfältig mit blassem Lippenstift und cremefarbenem Rouge, das sie seit Jahren nicht angerührt hatte. Dann setzte sie die dunkle Brille auf.
Als sie dann am Gate auf dem Plastikstuhl saß, fühlte sie sich wie befreit. Kein Job, niemand, der im Haus in Tiburon auf sie wartete. Und Slat, der mit Grahams Auto zurück nach San Francisco fuhr und den ganzen Weg zuviel Gas gab. Sie können es behalten, Herr Doktor. Keine Reue, keine Sorge. Frei.
Dann dachte sie an ihre Mutter, die bei Lonigan und Söhne tot und kalt auf einem Tisch lag, der Intervention des Skalpells entzogen, und die alte Finsternis kroch über sie hinweg, direkt unter den gespenstischen, monotonen Leuchtstoffröhren und inmitten all des Trubels. Sie dachte an das, was Michael über den Tod gesagt hatte. Daß er die einzige übernatürliche Erfahrung sei, die die meisten Menschen je machten. Und sie dachte, daß er recht hatte.
Wieder kamen lautlos die Tränen. Sie war froh, daß sie die dunkle Brille hatte. Mayfairs auf der Beerdigung. Massen von Mayfairs…
Sie schlief ein, sobald sie im Flugzeug saß.
19
DIE AKTE ÜBER DIE MAYFAIR-HEXEN
TEIL VI
Die Familie Mayfair von 1900 bis 1929
DIE FORSCHUNGSMETHODEN
IM ZWANZIGSTEN JAHRHUNDERT
Wie schon in unseren einleitenden Worten zu unserem Bericht über die Familie im neunzehnten Jahrhundert bemerkt, wurden unsere Informationsquellen über die Familie Mayfair mit jedem Jahrzehnt zahlreicher und ergiebiger.
Während die Familie dem zwanzigsten Jahrhundert entgegenging, beschäftigte die Talamasca weiterhin ihre traditionellen Forscher. Aber sie engagierte zum erstenmal auch professionelle Detektive. Eine Anzahl solcher Leute arbeitete für uns in New Orleans und tut es noch heute. Diese Leute wissen selten – wenn überhaupt -, wer wir sind. Ihre Berichte geben sie an eine Agentur in London. Und obgleich wir noch immer unsere speziell ausgebildeten Ermittler auf regelrechte »Gerüchtesammeltouren« nach New Orleans entsenden und mit zahlreichen anderen Beobachtern korrespondieren, wie wir es das ganze neunzehnte Jahrhundert hindurch getan haben, konnten diese Privatdetektive die Qualität unserer Informationen doch beträchtlich verbessern.
Aber noch eine andere Informationsquelle wurde uns gegen Ende des neunzehnten und zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts zugänglich gemacht; wir wollen sie – in Ermangelung eines besseren Ausdrucks – Familienlegenden nennen. Das heißt: Obwohl die Mayfairs, was ihre Zeitgenossen angeht, absolut verschwiegen sind und mit Außenseitern nur unter höchster Zurückhaltung über das Familienvermächtnis sprechen, hatten sie in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts doch angefangen, kleine Geschichten und Anekdoten und bunte Geschichten über Gestalten aus dunkler Vergangenheit zu erzählen. Freilich ist ein großer Teil dieser Familienlegenden zu vage, als daß er für uns von großem Interesse sein könnte, und vieles betrifft »das großartige Leben auf der Pflanzung«, wie es in vielen Familien in Louisiana zu einem Mythos geworden ist. Indessen fügen sich aber einige dieser Familienlegenden auf schockierende Weise in den Zusammenhang von Informationen, die wir aus anderen Quellen haben gewinnen können.
Eine andere Form
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