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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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über heftige Kopfschmerzen und plötzliche Blindheit zu klagen. Das konnte nur ein neuerliches Blutgerinnsel bedeuten. Die Operation, die für den kommenden Dienstag angesetzt war, mußte sofort in Angriff genommen werden – von ihr und Slattery.
    Als sie sich im OP umschaute, dachte sie: Das ist das letzte Mal. Ich werde nie wieder in diesem Raum sein, auch wenn ich nicht weiß, warum nicht.
    Schließlich aber fiel doch, wie immer, der Vorhang und trennte sie von Vergangenheit und Zukunft. Fünf Stunden lang operierte sie mit Slattery an ihrer Seite, und sie weigerte sich, ihn übernehmen zu lassen, obwohl sie wußte, daß er es gern getan hätte.
    Sie blieb noch einmal eine Dreiviertelstunde bei dem Patienten im Aufwachzimmer. Sie verließ ihn ungern, diesen hier. Ein paarmal legte sie ihm die Hände auf die Schultern und stellte sich mit ihrem kleinen mentalen Trick vor, was jetzt in seinem Gehirn vorging. Half sie ihm damit, oder beruhigte sie sich nur selbst? Sie hatte keine Ahnung. Trotzdem arbeitete sie geistig mit ihm, so angestrengt, wie sie nur jemals mit irgend jemandem gearbeitet hatte – ja, sie flüsterte ihm sogar zu, er müsse jetzt genesen, denn die Schwäche in der Arterienwand sei behoben.
    »Ein langes Leben für Sie, Mr. Benjamin«, wisperte sie.
    Slattery stand in der Tür, geduscht und rasiert, bereit, sie zum Flughafen zu fahren.
    »Kommen Sie, Rowan – raus hier, bevor noch etwas passiert!«
    Als er jetzt vom Highway nach links in Richtung Flughafen abbog, ging ihr der Gedanke durch den Kopf, daß Slattery so ehrgeizig war wie kaum ein Arzt, den sie kannte. Ihr war klar, daß er sie verabscheute, und zwar aus lauter simplen, langweiligen Gründen: weil sie eine außergewöhnliche Chirurgin war, weil sie den Job hatte, den er gern gehabt hätte, weil sie vielleicht bald zurück kommen würde.
    Eine niederschmetternde Kälte kroch in ihr hoch. Sie wußte, daß sie seine Gedanken empfing. Wenn ihr Flugzeug abstürzte, könnte er für immer ihren Platz einnehmen. Sie sah zu ihm hinüber, und ihre Blicke trafen sich für eine Sekunde. Er errötete verlegen. Ja, seine Gedanken.
    Wie oft war ihr das in der Vergangenheit schon passiert und wie häufig, wenn sie müde war? Vielleicht sank ihr Schutzschild herab, wenn sie müde war, und dann konnte dieses böse kleine telepathische Talent sich zügellos durchsetzen und ihr diese bitteren Erkenntnisse servieren, ob sie es wollte oder nicht. Es verletzte sie. Sie wollte nicht mehr in seiner Nähe sein.
    Aber es war gut, daß er ihren Job haben wollte, und es war gut, daß er da war, um ihn zu übernehmen, denn so konnte sie wegfahren, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen.
    Sie erkannte plötzlich ganz deutlich, daß es – so sehr sie das Klinikum geliebt hatte – nicht darauf ankam, wo sie praktizierte. Es konnte jedes beliebige gutausgerüstete Krankenhaus sein, in dem Schwestern und andere Fachleute ihr die Unterstützung gaben, die sie brauchte.
    Warum also Slattery nicht einfach sagen, daß sie nicht zurück kommen würde? Warum seinen inneren Konflikt nicht um seinetwillen einfach beenden? Aus einem einfachen Grund: Sie wußte nicht, weshalb sie so deutlich das Gefühl hatte, daß dieser Abschied endgültig sein würde. Es hatte etwas mit Michael zu tun, und es hatte etwas mit ihrer Mutter zu tun, aber es war so durch und durch irrational, wie sie noch nie etwas empfunden hatte.
    Ehe Slattery am Randstein anhielt, hatte sie die Tür schon geöffnet. Sie stieg aus und raffte ihre Schultertasche an sich.
    Dann starrte sie Slattery an, als er ihr den Koffer aus dem Kofferraum hob. Wieder zog die Kälte über sie hinweg, langsam und unbehaglich. Sie sah die Böswilligkeit in seinen Augen. Was für eine Strapaze die Nacht für ihn gewesen war! Er war so eifrig. Und er verabscheute sie so sehr. Sie konnte es förmlich riechen, als sie ihm den Koffer aus der Hand nahm.
    »Viel Glück, Rowan«, sagte er mit metallischer Fröhlichkeit. Ich hoffe, du kommst nicht zurück.
    »Slat«, sagte sie, »danke für alles. Und ich sollte Ihnen noch etwas sagen. Ich glaube nicht… Na ja, es ist gut möglich, daß ich nicht zurück komme.«
    Er konnte sein Entzücken kaum verbergen. Fast hätte er ihr leid getan, als sie die angespannte Bewegung seiner Lippen sah, als er sich bemühte, einen neutralen Gesichtsausdruck zu wahren. Aber dann empfand sie selbst ein mächtiges, warmes, wunderbares Glücksgefühl.
    »Es ist nur so ein Gefühl«, sagte sie. (Und

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