Hexenstunde
mit der irischen Identität der Familie zu tun. Sie entsprach zu jener Zeit einem Trend in dieser Gegend, und viele dieser aus Irland stammenden Amerikaner lebten im sogenannten Irish Channel, im Flußviertel zwischen den Mississippi-Docks und der Magazine Street, der Südgrenze des Garden District. Manche wohnten als Hausmädchen und Stallburschen im Hause, andere kamen täglich oder zu bestimmten Gelegenheiten zur Arbeit. Insgesamt gesehen waren sie der Familie gegenüber nicht so loyal wie die farbigen und schwarzen Bediensteten; sie sprachen freimütiger als die Bediensteten früherer Jahrzehnte über das, was in der First Street vor sich ging.
Auch wenn die Informationen, die der Talamasca durch sie zugänglich gemacht wurden, extrem wertvoll sind, handelt es sich doch um Informationen einer gewissen Art, die mit Sorgfalt zu behandeln sind.
Das irische Hauspersonal glaubte im allgemeinen an Geister, an das Obernatürliche und an die Fähigkeit der Mayfair-Frauen, bestimmte Dinge zu bewirken. Wir müssen sagen, daß sie äußerst abergläubisch waren. Daher grenzen ihre Geschichten über das, was sie gesehen oder gehört haben, nicht selten an das Phantastische, und oft enthalten sie lebhaft ausgemalte, grausige Schilderungen.
Gleichwohl ist das Material – aus naheliegenden Gründen – extrem signifikant. Und vieles, was irische Bedienstete berichtet haben, klingt – in unseren Ohren – durchaus vertraut.
Alles in allem betrachtet, kann man durchaus mit Recht sagen, daß die Mayfairs in der First Street sich im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts als Iren betrachteten und oft Bemerkungen dieses Inhalts machten; auch erschienen sie im Bewußtsein vieler, die sie kannten – ob Bedienstete oder Nachbarn -, mit ihren exzentrischen Verrücktheiten und ihrer Neigung zum Morbiden als beinahe stereotypisch irisch. Etliche Kritiker der Familie haben sie als »übergeschnappte irische Irre« bezeichnet, und ein deutscher Priester der St. Alphonsus-Kirche äußerte einmal, sie befänden sich »in einem ewigen Zustand keltischer Düsternis«. Mehrere Nachbarn und Freunde bezeichneten Mary Beths Sohn Lionel als »tobsüchtigen irischen Saufbold«, und sein Vater Daniel McIntyre galt in den Augen so gut wie aller Barkeeper in der Magazine Street jedenfalls auch als ein solcher.
Vielleicht kann man tatsächlich sagen, daß das Haus in der First Street mit dem Tod »Monsieur Juliens« (der in Wirklichkeit, wie gesagt, halb Ire war) die letzten Reste seines französischen oder kreolischen Charakters verlor. Juliens Schwester Katherine und sein Bruder Rémy waren ihm bereits ins Grab vorangegangen, seine Tochter Jeannette ebenfalls. Danach war die Kernfamilie – trotz der riesigen Familientreffen, bei denen französisch sprechende Verwandte zu Hunderten auftraten – eine irisch-amerikanisch-katholische Familie.
Dies führt uns zu einer weiteren entscheidend wichtigen Beobachtung – die im Fortgang dieser Erzählung nur allzu leicht übersehen werden könnte.
Mit dem Tod Juliens hat die Familie Mayfair möglicherweise das letzte Mitglied verloren, das ihre Geschichte wirklich kannte. ]e mehr wir mit den Nachkommen sprechen, je mehr wir von den lächerlichen kursierenden Legenden über die Vergangenheit auf der Pflanzung erfahren, desto sicherer erscheint uns dies.
Infolgedessen konnte ein Mitglied der Talamasca, das die Familie Mayfair zu erkunden hatte, von 1914 an nicht umhin, zu merken, daß es anscheinend mehr über die Familie wußte als die Familie selbst. Dies hat seitens unserer Ermittler zu beträchtlichen Verwirrungen und Belastungen geführt.
Schon vor dem Tod Juliens war die Frage, ob man versuchen sollte, mit der Familie Kontakt aufzunehmen oder nicht, für den Orden dringlich geworden.
Nach dem Tod Mary Beths wurde sie quälend.
Aber wir müssen jetzt mit unserer Geschichte fortfahren und in das Jahr 1891 zurück kehren; dort werden wir unser Augenmerk auf Mary Beth Mayfair richten, die uns ins zwanzigste Jahrhundert führen wird und die vielleicht die letzte der wirklich mächtigen Mayfair-Hexen war.
FORTSETZUNG DER GESCHICHTE DER MARY BETH MAYFAIR
In der Woche nach Marguerites Tod im Jahr 1891 ließ Julien ihren gesamten persönlichen Besitz von Riverbend in das Haus in der First Street bringen. Mit zwei gemieteten Wagen transportierte er zahlreiche Gläser und Flaschen, sorgfältig in Kisten verpackt, mehrere Truhen mit Briefen und anderen Papieren, etwa fünfundzwanzig Kartons mit
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