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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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tanzen.
    Dies war nicht der rechte Augenblick, um sie anzusprechen, sagte ich mir. Es war erst zehn nach acht, und ich wollte mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen und mich noch ein wenig umsehen. Überdies war ich von ihrer Erscheinung vorübergehend völlig entwaffnet. Eine große leere Fläche war ausgefüllt worden. Ich war sicher, daß sie Stuart nichts angetan hatte. Und so nahm ich, während ihr Lachen durch die neuerlichen Lärmattacken der Kapelle perlte, meine Wanderung zu den Flurtüren wieder auf.
    Nun will ich hier noch erwähnen, daß dieses Haus einen außergewöhnlich langen Flur und eine besonders lange und gerade Treppe besitzt. Der erste Stock schien völlig im Dunkeln zu liegen, und die Treppe war leer, aber Dutzende von Leuten schoben sich an ihr vorbei zu einem hell erleuchteten Raum am Ende des Flurs im Erdgeschoß.
    Ich wollte ihnen schon folgen und so meine kleine Erkundung des Hauses fortführen. Aber als ich die Hand auf den Geländerpfosten legte, sah ich jemanden oben auf der Treppe stehen. Ganz plötzlich erkannte ich, daß es Stuart war. Mein Schreck war so groß, daß ich beinahe seinen Namen gerufen hätte. Dann aber begriff ich, daß hier irgend etwas nicht stimmte.
    Wohlgemerkt, er sah absolut real aus, wie das von unten heraufscheinende Licht ihn bestrahlte. Aber sein Gesichtsausdruck machte mich sogleich auf die Tatsache aufmerksam, daß ich hier etwas sah, das nicht real sein konnte. Denn obwohl er mich geradewegs anschaute und offensichtlich erkannte, lag kein Drängen in seiner Miene – nur eine tiefe Traurigkeit, eine große und müde Betrübnis.
    Schließlich schüttelte er in großer Müdigkeit abweisend den Kopf, hob die rechte Hand und bedeutete mir in unmißverständlicher Gebärde, fortzugehen.
    Ich wagte nicht, mich zu rühren. Ich blieb absolut ruhig, wie ich es in solchen Augenblicken immer tue, widerstand dem unvermeidlichen Chaos im Kopf, konzentrierte mich auf den Lärm, das Gedränge, selbst auf das dünne Kreischen der Musik. Und sehr sorgfältig prägte ich mir ein, was ich sah. Seine Kleider waren schmutzig und in Unordnung. Die rechte Seite seines Gesichts war verschrammt oder mindestens verfärbt.
    Schließlich trat ich an die unterste Treppenstufe und begann hinaufzusteigen. Erst da erwachte das Phantom aus seiner scheinbaren Trägheit. Wieder schüttelte er den Kopf und winkte mir fortzugehen.
    ›Stuart!‹ flüsterte ich. ›Sprich mit mir, Mann, wenn du kannst!‹
    Ich stieg weiter die Treppe hinauf, den Blick starr auf ihn gerichtet, und seine Miene wurde immer furchtsamer. Ich sah, daß Erde an ihm klebte und daß sein Körper, obschon er mich anschaute, erste Anzeichen der Verwesung zeigte. Ja, ich konnte es sogar riechen! Dann geschah das Unausweichliche: Die Erscheinung begann zu verblassen. ›Stuart!‹ flehte ich ihn verzweifelt an. Aber die Gestalt verdunkelte sich, und eine Frau aus Fleisch und Blut und von außergewöhnlicher Schönheit trat, ohne es zu merken, durch ihn hindurch und kam in einer Wolke von pfirsichfarbener Seide und klimpernden Juwelen eilends die Treppe herunter auf mich zu und an mir vorbei, und süßer Parfümduft wehte wie ein Schleier hinter ihr her.
    Stuart war verschwunden. Der Geruch von verwesendem Menschenfleisch war verschwunden. Die Frau murmelte im Vorübergehen eine Entschuldigung und rief einer Gruppe von Leuten weiter unten im Flur etwas zu.
    Dann wandte sie sich um, und als ich immer noch dastand und, ohne auf sie zu achten, nach oben starrte, wo nur schattendunkle Leere zu sehen war, da faßte sie mich beim Arm.
    ›Die Party ist hier unten‹, sagte sie und zupfte an mir.
    ›Ich suche die Toilette‹, sagte ich; in diesem Augenblick fiel mir nichts anderes ein.
    ›Hier unten, Schätzchen‹, sagte sie. ›Durch die Bibliothek. Ich zeig’s Ihnen – gleich hier unten, hinter der Treppe. ‹
    Täppisch folgte ich ihr um die Treppe herum in einen sehr großen, aber nur matt erleuchteten Raum an der Nordseite des Hauses. Das mußte die Bibliothek sein, jawohl, ohne Zweifel – Bücherregale bis zur Decke hinauf, dunkles Ledermobiliar. Nur eine einzige Lampe brannte, hinten in der Ecke, neben einem blutroten Vorhang. Ein großer dunkler Spiegel hing über dem Marmorkamin; die Lampe spiegelte sich darin wie ein Ewiges Licht.
    ›Bitte sehr‹, sagte sie; sie deutete auf eine geschlossene Tür und verschwand sogleich. Ich gewahrte plötzlich einen Mann und eine Frau, die aneinander geschmiegt auf dem

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