Hexenstunde
chinesischen Teppich. Der Spiegel war völlig leer; er reflektierte Holzwerk und Bücher.
Ich drehte mich um und sah eine junge Frau auf mich zukommen, den Blick nur auf den Spiegel gerichtet. Ihre ganze Haltung zeigte Wut, Verwirrung, Bestürzung. Es war Stella. Vor dem Spiegel blieb sie stehen und starrte hinein. Erst dann drehte sie sich zu mir um.
›Na, jetzt können Sie es Ihren Freunden in London beschreiben, nicht wahr?‹ Sie war nahezu hysterisch. ›Sie können ihnen erzählen, daß Sie es gesehen haben!‹
Ich sah, daß sie am ganzen Leibe zitterte. Das dünne Goldkleidchen mit den Fransensteifen bebte. Und in banger Erregung umklammerte sie den monströsen Smaragd an ihrer Kehle.
Ich wollte mich aufrappeln, aber sie befahl mir, sitzen zu bleiben, und sie nahm sofort zu meiner Linken Platz und legte eine Hand fest auf mein Knie. Sie beugte sich zu mir, so dicht, daß ich die Tusche auf ihren langen Wimpern und das Puder auf ihren Wangen sehen konnte. Sie war wie eine große Puppe, die mich anschaute, eine Filmgöttin, nackt in spinnwebzarte Seide gehüllt.
›Hören Sie, können Sie mich mit nehmen?‹ fragte sie. ›Nach England, zu diesen Leuten, dieser Talamasca? Stuart hat gesagt, Sie könnten!‹
›Sagen Sie mir, was mit Stuart passiert ist, und ich nehme Sie mit, wohin Sie wollen.‹
›Ich weiß es doch nicht!‹ sagte sie, und Tränen stiegen ihr in die Augen. ›Hören Sie, ich muß weg von hier. Ich habe ihm nichts getan. Ich tue so etwas nicht. Ich habe nie jemandem etwas getan! Gott, glauben Sie mir denn nicht? Können Sie nicht sehen, daß ich die Wahrheit sage?‹
›Also gut. Was wollen Sie von mir?‹
›Helfen Sie mir! Nehmen Sie mich mit nach England. Schauen Sie, ich habe einen Paß, ich habe jede Menge Geld -‹ Sie brach ab, riß eine Schublade im Couchtisch auf und nahm ein dickes Bündel Zwanzig-Dollar-Scheine heraus. ›Hier, Sie können Tickets kaufen. Wir treffen uns dann. Noch heute abend.‹
Bevor ich antworten konnte, fuhr sie erschrocken auf. Die Tür hatte sich geöffnet, und der Jüngling, mit dem sie getanzt hatte, kam herein, mit rotem Gesicht und voller Sorge.
›Stella, ich habe dich gesucht…‹
›Oh, Sweetheart, ich komme ja schon.« Sie erhob sich sofort und warf mir noch einen bedeutsamen Blick zu. ›Geh und besorge mir etwas zu trinken, ja, Sweetheart?« Bei diesen Worten rückte sie ihm die Krawatte zurecht, drehte ihn mit flinken kleinen Bewegungen um und schob ihn regelrecht zur Tür hinaus.
Er war überaus mißtrauisch, aber offensichtlich sehr gut erzogen. Jedenfalls gehorchte er. Als sie die Tür geschlossen hatte, kam sie zurück. Ihr Gesicht war gerötet, beinahe fiebrig, und sie erschien absolut überzeugend. Ja, ich hatte den Eindruck, sie sei eine irgend wie unschuldige Person, die an all die Aufbruchsstimmung und die Rebellion der ›Jazz Babys« glaubte. Sie wirkte authentisch auf mich, wenn ihr versteht, was ich meine.
›Fahren Sie zum Bahnhof!« beschwor sie mich. ›Besorgen Sie die Tickets. Wir treffen uns am Zug.«
›Aber an welchem Zug, um welche Zeit?«
›Ich weiß doch nicht, an welchem Zug!« Sie rang die Hände. ›Ich weiß nicht, um welche Zeit! Ich muß hier weg! Hören Sie, ich komme gleich mit.«
›Das ist sicher gescheiter. Sie könnten im Taxi auf mich warten, während ich meine Sachen aus dem Hotel hole.«
›Ja, das ist eine gute Idee«, flüsterte sie. ›Und wir verschwinden mit dem nächstbesten Zug. Umsteigen können wir überall.«
›Und was ist mit ihm?«
›Mit wem? Mit ihm?« wiederholte sie erbost. ›Sie meinen Pierce? Pierce wird keine Schwierigkeiten machen! Er ist ein Schatz. Mit Pierce werde ich fertig.«
›Sie wissen, daß ich nicht Pierce meine«, antwortete ich. ›Ich meine den Mann, den ich gerade im Spiegel gesehen habe. Den Mann, den Sie gezwungen haben, zu verschwinden.«
Sie sah absolut verzweifelt aus – wie ein Tier, das sich in die Enge getrieben sieht. Aber ich glaube nicht, daß ich derjenige war, der sie in die Enge trieb. Ich durchschaute die Sache nicht.
›Hören Sie, ich habe ihn nicht gezwungen, zu verschwinden«, flüsterte sie. ›Das waren Sie.« Mit bewußter Anstrengung versuchte sie, sich zu beruhigen, und einen Moment lang ruhte ihre Hand auf ihrer schwer atmenden Brust. ›Er wird uns nicht aufhalten«, sagte sie. ›Bitte vertrauen Sie mir: Er wird es nicht tun.«
In diesem Augenblick kehrte Pierce zurück; er stieß die Tür auf und ließ die machtvolle
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