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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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barfuß stand es da und starrte seine Mutter an. Dann fing es ebenfalls an zu schreien, und seine Stimme erhob sich schrill und durch dringend über alle anderen. ›Mama, Mama, Mama‹ – als vertiefe sich mit jedem Ausbruch ihre Erkenntnis dessen, was geschehen war, hilflos weiter.
    ›Jemand soll sie wegbringen!‹ rief ich, und schon hatten sich andere um sie gesammelt und versuchten, sie fort zu ziehen. Ich rutschte beiseite und stand erst auf, als ich am Verandafenster angekommen war. Im zuckenden Licht eines weißen Blitzes sah ich, daß jemand die Pistole aufhob. Die Waffe wurde einem anderen weitergereicht, und gleich wieder einem anderen, der sie hielt, als wäre sie lebendig. Auf Fingerabdrücke kam es jetzt nicht mehr an – falls es je darauf angekommen war -, aber es hatte ja zahllose Augenzeugen gegeben. Es gab keinen Grund für mich, nicht zu verschwinden, solange ich noch konnte. Also wandte ich mich ab und lief auf die Seitenveranda und von dort hinaus auf den Rasen und in den Wolkenbruch.
    Dutzende von Leuten drängten sich dort; die Frauen weinten, die Männer taten, was sie konnten, um die Köpfe der Frauen mit ihren Jacketts zu schützen. Alle waren durchnäßt, alle fröstelten und waren ratlos. Die Lichter flackerten für eine Sekunde wieder auf, aber ein neuerlicher wütender Blitz besiegelte ihr Schicksal endgültig. Als eines der oberen Fenster plötzlich in einem Hagel glitzernder Scherben zerschellte, brach von neuem Panik aus.
    Ich lief auf den hinteren Teil des Grundstücks zu und gedachte unbeobachtet durch ein Hintertor zu verschwinden. Dazu mußte ich über einen kurzen Plattenweg spurten und zwei Stufen zu dem Patio rings um das Schwimmbecken hinauf steigen; dann erblickte ich den Seitenpfad zum Tor.
    Trotz des dichten Regens sah ich, daß es offenstand, und dahinter glänzte naß das Kopfsteinpflaster der Straße. Donner rollte über die Dächer, und ein Blitz entblößte für einen scheußlichen Augenblick den Garten mit seinen Balustraden und den hoch wuchernden Kamelien und den Badetüchern, die über zahlreiche skeletthafte schwarze Eisenstühle drapiert waren. Alles schwankte und flatterte wehrlos im Wind.
    Ich hörte plötzlich Sirenen. Und als ich dem Gehweg entgegeneilte, sah ich plötzlich einen Mann, der steif und regungslos dastand, rechts vom Tor in einer dichten Gruppe von Bananenstauden.
    Als ich näher kam, warf ich einen Blick in das Gesicht des Mannes. Es war der Geist, der mir hier noch einmal sichtbar wurde – aus welchem Grund, das wußte der Himmel. Mein Herz jagte gefährlich, und ich verspürte ein momentanes Schwindelgefühl und eine Anspannung in meinen Schläfen, als werde mir mein Blutkreislauf abgeklemmt.
    Er zeigte sich in der gleichen Gestalt wie beim letzten Mal; ich sah den unverkennbaren Schimmer von braunem Haar und braunen Augen und seine dunkle Kleidung, die von ihrer steifen Ordentlichkeit abgesehen wenig bemerkenswert war und insgesamt irgend wie unbestimmt erschien. Aber die Regentropfen funkelten, wo sie auf seine Schultern und sein Revers trafen, und sie glitzerten auch in seinem Haar.
    Doch das Gesicht des Wesens hielt mich in seinem Bann. Es war vom Schmerz monströs verwandelt, und seine Wangen waren naß von Tränen, als er mir wortlos in die Augen blickte.
    ›Gott im Himmel – sprich, wenn du kannst‹, sagte ich mit fast den gleichen Worten, die ich auch dem armen, verzweifelten Geist Stuarts gegenüber benutzt hatte. Und so sehr versetzte mich alles, was ich gesehen hatte, in Raserei, daß ich mich auf ihn stürzte, ihn bei den Schultern packen und zwingen wollte, mir zu antworten, wenn er könnte.
    Er verschwand. Aber diesmal fühlte ich, wie er verschwand. Ich fühlte die Wärme und die plötzliche Bewegung der Luft. Es war, als sei etwas weg gesogen worden, und die Bananenstauden schwankten heftig. Aber dann waren es wieder Wind und Regen, die sie schüttelten. Und plötzlich wußte ich nicht mehr, was ich eigentlich gesehen und gefühlt hatte. Mein Herz geriet bedrohlich ins Stolpern. Eine neuerliche Woge von Schwindelgefühl überkam mich. Ich mußte fort von hier.
    Ich lief die Chestnut Street hinauf, vorbei an Dutzenden umherirrender, weinender, benommener Menschen, und dann die Jackson Avenue hinunter, wo ich Wind und Regen hinter mir ließ; hier war ziemlich klare, milde Luft, und der Verkehr strömte vorbei, anscheinend ohne zu ahnen, was nur wenige Straßen weiter geschehen war. Nach wenigen Sekunden hatte ich ein Taxi

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